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6. Jazz-Entstehung --- FÜR DIE SCHULE ERKLÄRT


Der erste große Meister des Jazz war Louis Armstrong in den 1920er Jahren. Schaut man sich die Musikkultur an, aus der er und sein Lehrmeister Joe Oliver kamen, dann erfährt man viel über die Entstehung des Jazz. Denn aus dieser Kultur stammen die Merkmale, die den Jazz zu einer eigenen Musikart gemacht haben. Joe Oliver und Louis Armstrong kamen nicht aus einem multikulturellen Schmelztiegel, wie es oft dargestellt wird. Sie waren Nachfahren der Sklaven. Nach der Aufhebung der Sklaverei im Jahr 1865 ging die Ausbeutung auf den Plantagen weiter und deshalb wanderten Tausende in die Städte ab. Viele kamen nach New Orleans, wie Louis Armstrongs Mutter. In den Städten lebten sie in Armenvierteln als ungebildete, ausgegrenzte Unterschicht. Sie brachten von den Plantagen ihre eigene Musik mit, die in der Zeit der Sklaverei entwickelt worden war. Auf den Plantagen waren ihre Instrumente meistens einfach, oft selbst hergestellt – Fideln, Banjos, einfache Flöten, Tierknochen als Rhythmusinstrument. In den Städten fanden manche von ihnen Zugang zu anderen Instrumenten – Blasinstrumenten, Klavier und so weiter. Auch gab es dort viel mehr musikalische Anregungen. So wurden die Musiker vielseitiger und professioneller und entwickelten damit ihre Musik weiter, bewahrten dabei aber den eigenen afro-amerikanischen Charakter. [Mehr dazu: Link und Link]

Ihre Musik war nicht in die heutigen Kategorien Blues, Ragtime, Jazz und so weiter unterteilt. Die Rags zum Tanzen, der Blues-Gesang, die religiösen Spirituals – das ging alles ineinander über. Sie sangen in den Kneipen, auf den Straßen, in den Kirchen mit derselben Ausdruckskraft, erzeugten dieselbe Art von Rhythmus und spielten auch die Instrumente so. [Mehr dazu: Link]

Zum Beispiel spielten Musiker, die heute zum Blues gezählt werden, viele Rags, auch noch in den 1920er Jahren – im folgenden Stück mit Banjo und Mundharmonika:

          HÖRBEISPIEL: Cannon’s Jug Stompers: Hollywood Rag (1928)

Die Rags der Banjo-Musik wurden in Kneipen auf das Klavier übertragen. So entstand das Ragtime-Klavierspiel. Diese Pianisten konnten meistens nicht notenlesen und improvisierten ihre Rags mehr oder weniger, wie sie es schon immer taten. [Mehr dazu: Link] Sie ver-ragten alles, was sie brauchen konnten, manchmal sogar Stücke aus der „klassischen“ Musik. [Mehr dazu: Link] Aus der frühen Zeit gibt es keine Aufnahmen, aber später gemachte Aufnahmen von älteren Musikern geben eine Vorstellung, wie das klang. Der folgende Pianist konnte nicht notenlesen, spielte aber Beethovens Mondscheinsonate – auf eigene Weise:

          HÖRBEISPIEL: Donald „The Lamb“ Lambert: Moonlight Sonata (1960)

Es gab auch rauere Pianisten, die zum Beispiel auf folgende Art Rags spielten [Mehr dazu: Link]:

          HÖRBEISPIEL: Cow Cow Davenport: Atlanta Rag (1929)

Diese raueren Pianisten gingen dann in Richtung Boogie-Woogie, der heute zum Blues gezählt wird [Mehr dazu: Link]:

          HÖRBEISPIEL: Meade „Lux“ Lewis: Yancey Special (1936)

Aber auch die verfeinerte Piano-Linie, die heute zum Jazz gezählt wird, konnte eine Menge Blues enthalten [Mehr dazu: Link und Link]:

          HÖRBEISPIEL: Jelly Roll Morton: New Orleans Blues (1949, Library Of Congress Recordings)

Manche Afro-Amerikaner bekamen Zugang zur Bildung der „Weißen“. So war der Pianist Scott Joplin notenkundig und verfasste Ragtime-Klavier-Kompositionen nach dem Vorbild klassischer europäischer Musik. Mit dem Verkauf der Notenblätter konnte er mehr einnehmen als durch sein nächtelanges Klavierspiel in Kneipen. Die veröffentlichten Notenblätter vieler Ragtime-Komponisten, auch „weißer“, blieben erhalten, das Klavierspiel in Kneipen nicht und so wird heute unter Ragtime meistens diese komponierte Musik in Notenschrift verstanden. Ragtime war lange Zeit aber viel mehr. Vor 1917 wurde auch die Blasmusik, die heute Jazz genannt wird, als Ragtime bezeichnet. Der Ragtime-Rhythmus war damals in den gesamten USA und darüber hinaus der moderne Rhythmus der jungen Leute. Selbst gefragte Orchester in New York spielten in diesem Rhythmus. [Mehr dazu: Link]

All diese Musik kam ursprünglich aus der afro-amerikanischen Kultur der Südstaaten, nicht speziell aus New Orleans, und wurde dann auch in den Städten des Nordens weiterentwickelt. So gab es in New York frühen Piano-Jazz, der nicht aus New Orleans kam. Insofern ist die Aussage, der Jazz wäre in New Orleans entstanden, nicht richtig. Eine Besonderheit von New Orleans war aber, Blasinstrumente mit starkem Blues-Ausdruck zu spielen, und das wurde für die weitere Entwicklung des Jazz sehr wichtig. Insofern hat New Orleans sehr wohl einen besonderen Stellenwert in der Jazz-Geschichte. [Mehr dazu: Link]

Auch von Blues-Gesang gibt es aus der Frühzeit keine Aufnahmen, doch geben spätere Aufnahme eine gute Vorstellung von dieser alten Musik. Sie entstand im Zusammenhang mit schwerer Arbeit auf den Baumwollfeldern der Südstaaten.

          HÖRBEISPIEL: Big Joe Williams: Stack O'Dollars (1969; Gitarre, einsaitige Fidel, Waschbrett)
          HÖRBEISPIEL: Robert Belfour: Poor Boy Long Way From Home (1994)
          HÖRBEISPIEL: Jack Owens & Bud Spires: Hard Times (1970)

Das sind keine dilettantischen Musiker, wie man aus der europäischen Perspektive meinen könnte, sondern versierte Vertreter einer eigenen Musikkultur, einer außereuropäischen. Die Musiktheorie kann gerade den stärksten Teil dieser Musik nicht erfassen – ihren reichen, ausdrucksvollen, tiefgehenden Sound. [Mehr dazu: Link]

Diesen starken stimmlichen Ausdruck übertrugen ungebildete Afro-Amerikaner auf Blasinstrumente, als sie in den Besitz solcher Instrumente gelangten und auf ihre ungeschulte Weise zu spielen begannen. Schließlich marschierten sie mit ihrer selbst entwickelten Blasmusik durch die Straßen von New Orleans – so wie es die professionellen Musikkapellen anderer Bevölkerungsgruppen taten. Diese Brassband-Musik der Afro-Amerikaner klang für geschulte Ohren falsch. Aber sie spielten nicht nur deshalb so, weil sie es nicht anders konnten, sondern auch, weil das ihrem andersartigen Musikverständnis entsprach. Ein halbes Jahrhundert später spielten sie immer noch in ihrer eigenen Art. [Mehr dazu: Link und Link]

          HÖRBEISPIEL: Unbekannte Uptown Brass Band: Bourbon Street Parade (1957, aufgenommen von Samuel Charters)
          HÖRBEISPIEL: Gibson Brass Band: The Little Rascal (1963)

Die eigenen afro-amerikanischen Musikauffassungen waren entscheidend dafür, dass neue, nicht-europäische Spielweisen auf europäischen Instrumenten entstanden.

Viele frühe Jazz-Musiker wie Joe Oliver und Louis Armstrong spielten in New Orleans einerseits in solchen Brassbands der Straßen und andererseits in den Tanzbands der Kneipen. Die Musik, die später Jazz genannt wurde, war die der Tanzbands. Es waren im Grunde so genannte String-Bands, also Bands mit Saiteninstrumenten – Banjos, Fideln und so weiter, wie sie schon lange davor für Tanzmusik verwendet wurden. Dazu kamen dann die Blasinstrumente und später auch das Klavier.1) Von den String-Bands ist der Kontrabass bis heute im Jazz erhalten geblieben. [Mehr dazu: Link und Link]

Wichtig für die Entstehung des Jazz war auch die ekstatische Kirchenmusik der afro-amerikanischen Unterschicht – vor allem durch die Art, wie hier spontan ein Zusammenklingen verschiedener Stimmen gebildet wurde. Diese Musik, die viele Jazz-Musiker in jungen Jahren erlebten, hinterließ in ihnen tiefgehende Erfahrungen von Intensität und Gemeinschaft. [Mehr dazu: Link]

          HÖRBEISPIEL: The Elders McIntorsh & Edwards’ Sanctified Singers: Since I Laid My Burden Down (1928)
          HÖRBEISPIEL: Joe Washington Brown, Austin Coleman & Group: Run, Old Jeremiah (1934, aufgenommen von John A. and Alan Lomax)
          HÖRBEISPIEL: Sin-Killer Griffin: The Man of Calvary (1934)
          HÖRBEISPIEL: Reverend Kelsey and His Congregation: Little Boy (1948)

In diesem Geflecht aus Rags, Blues, religiöser Musik, Blasmusik, Tanzmusik einen Zeitpunkt zu finden, an dem der Jazz entstand, ist nicht möglich – auch, weil es aus der Zeit vor 1920 kaum Aufnahmen von afro-amerikanischen Musikern gibt. [Mehr dazu: Link] Die Entstehung des Jazz, wie er heute verstanden wird, war ein längerer Prozess. Der begann jedenfalls nach der Aufhebung der Sklaverei 1865 und der Abwanderung in die Städte – wahrscheinlich um 1900 herum. Louis Armstrongs Aufnahmen der späten 1920er Jahre sind dann bereits bedeutende Meisterwerke des Jazz. [Mehr dazu: Link] Sein folgendes Stück zeigt, wie Blues auf Blasinstrumenten klingen kann. Sein bluesiges Spiel beruhte auf einer langen Tradition. Er erreichte darin allerdings eine Meisterschaft, die neu war und als modern empfunden wurde. [Mehr dazu: Link und Link]

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong and His Hot Seven: Wild Man Blues (1927)

Mehr zur Entstehung des Jazz auf meiner Website. Links stehen im Video-Text.

 

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  1. QUELLE: Reimer von Essen, Aufführungspraxis historischer Jazzstile, in: Wolfgang Sandner [Hrsg.], Jazz, 2005, S. 139

 

 


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