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JAZZ ESSENZ – 6. Rhythm People


Jazz ist erst einmal Rhythmus. Allerdings gibt es im Jazz-Bereich alles Mögliche, auch Musik mit wenig Rhythmus, besonders, wo europäische Einflüsse stark sind. Zum Beispiel haben in den 1920er Jahren Orchesterleiter wie Paul Whiteman den Jazz mit klassischen Geigenklängen geglättet und gelähmt und so für ein bürgerliches Publikum gefällig gemacht. In den 1950er Jahren sprachen Jazz-Kritiker begeistert von „Cool Jazz“ und meinten damit einen Jazz, der mild und rhythmisch gedämpft klang. Daraus ging eine Linie beliebter Pianisten wie Bill Evans (ab 1950er Jahre), Keith Jarrett (ab 1970er Jahre) und Brad Mehldau (ab 1990er Jahre) hervor, die sich nicht nur musikalisch, sondern auch in der Gestik an die Klassik anlehnen. Sie erheben ihr Haupt, senken es in tiefer Gefühlsregung, bewegen sich salbungsvoll und drücken mit verzerrtem Gesicht die Anstrengung des künstlerischen Schaffens aus.1)

Die Tendenz zu europäischen Kunstauffassungen ist natürlich auch im europäischen Jazz stark. Typischerweise stehen da stimmungsvolle Klänge und ein beschaulicher Musikgenuss im Vordergrund, nicht etwa Rhythmus und Bewegung.

Auch im so genannten Avantgarde-Bereich spielen europäische Kunstauffassungen eine große Rolle. Zum Beispiel sagte der deutsche Jazz-Kritiker und Musikwissenschaftler Ekkehard Jost über die Musik des Free-Jazz-Pianisten Cecil Taylor: Sie stelle spezielle Ansprüche, nehme einen richtig mit. Nach Cecil Taylors Konzerten „fix und fertig“ zu sein, gehöre einfach dazu.2) – Anstrengende, oft auch beklemmende Vorführungen haben im europäischen Kulturleben etablierte Nischen und gelten als anspruchsvolle Kunst. Cecil Taylor selbst betonte die afro-amerikanischen Ursprünge seiner Musik und sprach sogar von afrikanischen Wurzeln. Und zweifelsohne hatte sein motorisches, improvisiertes Klavierspiel außereuropäischen Charakter. Aber wie hätte man dem Jazz-Kritiker Stanley Crouch widersprechen können, als er in einem Streitgespräch zu Cecil Taylor sagte: „All dieses Zeug über Afrika, das du sagst – Afrika dies, Afrika das: Wenn du nach Afrika fährst und dort spielst, stellst du einen neuen Rekord im Leeren eines Saals auf. Wie groß der Saal auch immer sein mag, du würdest ihn in 5 Minuten leeren!“3) – In der afro-amerikanischen Jazz-Community blieb Cecil Taylor ein Außenseiter.4) Anklang fand er überwiegend bei einem europäischen Publikum, das mit seinem Kunstverständnis vielen Musikern des so genannten Free-Jazz eine Plattform bot.

Das europäische Verständnis hat viel für sich. Was den Jazz jedoch zur großartigen Bereicherung macht, das sind seine außer-europäischen Wesenszüge. Zum Beispiel kam Louis Armstrong aus einer Subkultur, in der die Leute sonntags beim Gottesdienst nicht ruhig auf ihren Plätzen saßen und zu harmonischen Orgelklängen in Andacht versanken, sondern mitreißende Rhythmen erzeugten, sich intensiv bewegten und ausdrückten. Fast hundert Jahre später sagte die Sängerin Betty Carter: „Swing – das ist der Drumbeat, das ist unsere Kirche, unsere Kultur, das sind wir.“5)

Das Bewegungsgefühl des Jazz ist seit jeher für Europäer wie mich eine faszinierende Erweiterung des musikalischen Horizonts. Mehr im nächsten Video.

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Näheres und Quelle: Link; siehe auch Fußnote 9 an folgender Stelle: Link
  2. Näheres und Quelle: Link
  3. Quelle: Link; Näheres in Fußnote 179 an folgender Stelle: Link
  4. Näheres und Quelle in der Fußnote 43 an folgender Stelle: Link
  5. Quelle: Link

 

 


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