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JAZZ ESSENZ – 13. Neues Substrat


          HÖRBEISPIEL: James Brown: There it is (1972)
Diese ineinander verzahnten Rhythmen der James-Brown-Band waren etwas Neues in der afro-amerikanischen Tanzmusik und faszinierten den jungen Steve Coleman, der in Chicago in einem ausschließlich afro-amerikanischen Umfeld aufwuchs. Später machte er als angehender Saxofonist in der Jazz-Szene seines Umfelds viele weitere wichtige Erfahrungen. Im Jahr 1978 übersiedelte er als 21-Jähriger nach New York. Kurz danach hörte er zum ersten Mal Aufnahmen von Trommelmusik aus West-Afrika und lernte so das dort übliche Verzahnen von Rhythmen kennen.

          HÖRBEISPIEL: Ivory Coast National Company (1977; Album: Music of the Ivory Coast)

Steve Coleman verglich die Strukturen dieser Trommelmusik, der James-Brown-Musik und der Charlie-Parker-Musik, die er eingehend kannte. Außerdem beschäftigte er sich damit, wie sich das rhythmische Fundament, das Substrat (wie er es nannte), im Laufe der Jazz-Geschichte veränderte – von Louis Armstrongs Aufnahmen der 1920er Jahre über Charlie Parkers Musik der 1940er Jahre bis zu John Coltrane in den 1960er Jahren. Er fand, dass es längst Zeit für eine Weiterentwicklung war, denn seine Generation war mit einer anderen Musik aufgewachsen als Charlie Parker und John Coltrane und brachte daher ein anderes rhythmisches Grund-Feeling mit. James Browns verzahnte Rhythmen waren in seinen Augen eine bedeutende Innovation, auch wenn diese Tanzmusik nicht auf dem kunstvollen Niveau der Meister des Jazz war. Diese Innovation auf ein so hohes Niveau zu bringen und damit eine neue Art von Substrat zu schaffen, war Steve Colemans Anliegen. Wertvolle Anregungen, wie das gelingen kann, bezog er nicht nur aus der west-afrikanischen Trommelmusik, sondern auch aus seiner Zusammenarbeit mit dem älteren Schlagzeuger Doug Hammond. Der komponierte für seine Stücke „Drum Chants“, wie er sie nannte – lange rhythmische Figuren, die er auf dem Schlagzeug spielte und die einen melodie-artigen Charakter hatten. Umgekehrt gestaltete er die Melodien seiner Stücke rhythmisch interessant und er verflocht sie mit seinen Drum-Chants, sodass eine rhythmische Melodielinie und eine melodie-artigen Rhythmus-Linie ineinandergriffen.

          HÖRBEISPIEL: Doug Hammond Trio: Perspicuity (1981/1982)

Die Drum-Chants dienten auch als Grundlage für die Improvisationen – ähnlich wie Akkordfolgen. Sie forderten die Improvisatoren heraus, denn die mussten von den Drum-Chants wegspielen, dennoch auf sie bezogen bleiben und wieder in sie zurückfinden und dabei noch stimmige Melodielinien bilden. Das brauchte viel Hör-Erfahrung und ein Konzept für die Stimmführung. Für Steve Coleman war das reizvoll, denn er schätzte ein Spiel mit anspruchsvollen musikalischen Strukturen. Er begann, für seine Stücke ebenfalls Drum-Chants zu komponieren, und entwickelte sie durch Singen und Schlagen mit Händen und Füßen. Manche Rhythmen, die er dabei hervorbrachte, hatten ungewöhnliche Längen, waren zum Beispiel 5, 7, 9 oder 11 Beats lang, und klangen trotzdem gut. Allmählich tendierte er sogar zu solchen ungewöhnlichen Rhythmen.

Die Idee der Drum-Chants verband Steve Coleman mit all seinen anderen Anregungen und er fing an, rhythmisch-melodische Linien zu verflechten, die unterschiedlich lang waren, sodass sie sich ständig gegeneinander verschoben. Etwas Ähnliches hatte er zuvor als Mitglied der Bigband von Sam Rivers kennengelernt. Der schrieb für seine Bigband Kompositionen, in denen er mehrere Blasinstrumente gleichzeitig unterschiedlich lange Melodien spielen ließ, was aufregende, allerdings auch ziemlich schräge Klänge erzeugte.

          HÖRBEISPIEL: Sam Rivers RivBea All-Star Orchestra: Nebula (1998)

Bei Sam Rivers spielten sich die Verschiebungen durch unterschiedliche Längen nur im Bereich der Melodie-Instrumente ab, also im oberen Bereich. Sein Fundament bestand aus herkömmlichen Rhythmen. Steve Coleman hingegen arbeitete im Fundament mit unterschiedlichen Längen und das ergab eine ganz andere Herausforderung. Er sagte: Die Herausforderung sei nicht gewesen, einen Fünfer-Rhythmus gegen einen Siebener-Rhythmus zu setzen. Das sei gar nichts. Die wirkliche Herausforderung sei gewesen, die Rhythmen so zu gestalten, dass sie funktionieren, obwohl sie gegeneinander zirkulieren, – dass sie dennoch ein bestimmtes Feeling, einen Groove erzeugen, dass sie sich trotz ihres wandelnden Charakters wirklich gut anfühlen.

Musikerkollegen erklärten ihm, dass das nicht funktionieren werde und niemand so etwas spielen könne. Doch fand Steve Coleman schließlich sehr talentierte, aufgeschlossene, junge Musiker, mit denen er im Jahr 1990 die ersten ausgereiften Aufnahmen seiner neuartigen Musik machen konnte. Er und seine Mitspieler waren im Umgang mit den komplizierten Rhythmen bereits so versiert, dass sie darüber mit bestechender Lockerheit und Gewandtheit improvisieren konnten. Steve Coleman begann dann sogar, mit seiner Band direkt bei Auftritten Stücke zu entwickeln. Zum Beispiel gab er dem Bassisten folgenden Rhythmus vor, bei dem ich 4 Beats zähle.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Laid Back Schematics (1993)

Dem Gitarristen spielte er folgenden Rhythmus vor, bei dem ich 5 Beats zähle. Er verschiebt sich also ständig gegenüber dem Bass-Rhythmus. Dennoch klingt die Kombination der beiden Rhythmen lässig.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Laid Back Schematics (1993)

Dann sang Steve Coleman dem Pianisten und schließlich auch dem Schlagzeuger Rhythmen vor. So entstand ein mächtiger, komplexer Groove.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Laid Back Schematics (1993)

Darüber improvisierte Steve Coleman dann und auch andere Bandmitglieder spielten von den vorgegebenen Mustern weg.

Im Jahr 1993 reiste Steve Coleman nach Afrika und später nach Kuba. Er wollte die Musiktraditionen, auf die sein Rhythmus-Konzept weitgehend zurückging, vor Ort studieren und seine Rhythmen noch stärker machen. Dabei stellte er fest, dass afrikanische Trommler erhebliche Schwierigkeiten mit seiner Musik hatten und sich die Kubaner aufgrund ihrer Erfahrung mit westlicher Musik wesentlich besser einfügten, obwohl sie sehr afrikanisch klangen. In den Jahren 1996 bis 1998 gehörte der hervorragende kubanische Conga-Spieler Miguel Angá Días der Steve-Coleman-Band an und sorgte für eine zusätzliche Verdichtung der Rhythmen. Ihre Überlagerungen waren oft atemberaubend.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Fortitude and Chaos (1997)

Steve Colemans Musik ist jedoch vielgestaltig. Ihr Substrat kann auch schlank und durchsichtig sein. Bei all ihren verschiedenen Ausformungen blieb aber das Übereinanderlegen mehrerer Rhythmen mit unterschiedlichen und ungewöhnlichen Längen ein Wesensbestandteil dieser Musik. Das Übereinanderlegen macht sie im Prinzip afrikanisch, ihr Groove verbindet sie mit der Funk-Musik und die ständigen rhythmischen Verschiebungen verleihen ihr einen fließenden Charakter, der mit der Jazz-Improvisation bestens harmoniert. Daher sehe ich in Steve Colemans Substrat eine großartige Weiterentwicklung.

Ausführlicher und mit Quellenangaben habe ich auch dieses Thema auf meiner Jazz-Seite dargestellt. Ein Link steht unter dem Video.1)

 

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