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JAZZ SPIRIT – 6. Botschaft


Louis Armstrong und Charlie Parker waren geniale Musiker, aber inwiefern kann ihre Lebenserfahrung für mich relevant sein? Sie wuchsen in ganz anderen Verhältnissen auf, unter schwierigen Bedingungen. Louis Armstrong verausgabte sich dann im Showgeschäft, angetrieben von seinem Manager, bis seine Gesundheit aufgebraucht war.1) Charlie Parker bekam durch seine Drogensucht, in die er als Jugendlicher schlitterte, keinen Boden mehr unter die Füße und starb mit 34 Jahren. Viele jüngere Musiker folgten ihm nicht nur musikalisch, sondern auch im Drogenkonsum, unter anderem John Coltrane. Der konnte sich später von der Sucht befreien, strebte nach tieferer Wahrheit und gelangte in eine spirituelle, esoterische Welt.2) Er starb als 40-Jähriger. Im kulturellen Selbstverständnis afro-amerikanischer Jazz-Musiker spielen oft Bezüge auf Afrika eine große Rolle. Die haben zum Teil mythologischen Charakter. So ist eine Verehrung des alten Ägypten als Hochkultur Afrikas verbreitet. Steve Coleman griff das in seiner Musik auf.3) Wie Coltrane lässt er auch Astrologie und andere esoterische Ideen in seine Musik einfließen. Er erklärte: Um das „Wesen der menschlichen Existenz“ und die Natur auszudrücken, verwende er „spirituelles Zeug, Träume, Logik, Zahlenzeug“, alles, was verfügbar ist, „wilde Analogien, was auch immer“.4)

Ich kann diesen irrationalen Vorstellungen nichts abgewinnen und höre seine Musik losgelöst davon – so wie man auch nicht die Weltsicht von Bach, Mozart und Beethoven teilen muss, um ihre Musik zu schätzen.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Trigrams/Astrology III (2004/2005)

Um meisterhaften, kreativen Jazz hervorzubringen, braucht es völlige Hingabe an die Musik. Das lässt kaum Raum für anderes. Dazu kommen die extremen Arbeitsbedingungen. Die Musiker arbeiten abseits der Alltagsrealität anderer Leute, mit geringer Erfolgsaussicht und großer existentieller Unsicherheit. Sie treten nachts auf, umgeben vom Nachtleben, oft auf anstrengenden Tourneen. Diese Lebensweise lässt private Beziehungen nur allzu oft zerbrechen. Viele bedeutende Musiker hatten massive persönliche Probleme, sponnen sich in eine eigene Welt ein, verhielten sich merkwürdig, mitunter problematisch. Extreme Erfahrungsbereiche sind im Jazz allgegenwärtig.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Transition (1965)

Wie man sich fühlt und sein Umfeld wahrnimmt, wie man sich bewegt, wie man denkt, spricht, sich verhält und auch wie man zu grundlegenden Fragen eingestellt ist – das entwickelt sich alles unbewusst in der Kindheit und Jugend und kann später nur sehr begrenzt verändert werden. Mit dem, was man geworden ist, ringt man dann um sein Glück, angetrieben von den Gefühlen, tastet sich voran, ohne das Geschehen in seiner ganzen Komplexität erfassen zu können, und schließlich kommt man der Vergänglichkeit nicht aus. Wir beherrschen das Leben nicht – weder als Einzelperson noch als Gesellschaft.

So stolz Europa auch auf seine reiche Kultur war, geherrscht und ausgebeutet wurde brutal. Naturwissenschaft und Aufklärung erweckten die Hoffnung, aus der Dunkelheit herauszukommen, doch regiert die Gier ungebrochen. So viele Anläufe wurden genommen, die Abgründe aus der Welt zu schaffen. Nicht dass diese Anstrengungen alle vergebens gewesen wären, denn ohne sie wäre vieles schlechter. Aber die Abgründe blieben oder neue taten sich auf. Die Bilder einer wohlgeordneten Welt, die die europäische Kultur vermittelte, waren Illusionen.

          HÖRBEISPIEL: Wolfgang Amadeus Mozart: Die Schuldigkeit des ersten Gebots (1767)

Die so genannte Moderne klingt schon lange ernüchtert.

          HÖRBEISPIEL: Béla Bartók: Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta, IV. Allegro molto (1936)

Wie kann man trotz allem das Geschenk des Lebens mit Lebensfreude würdigen?

Herrschen, Besitzen, Verbrauchen – das verursacht unvermeidlich Schäden und bildet so unsere unerfreuliche, zerstörerische Seite. Aber wir haben auch Möglichkeiten, uns auf unschädliche, sogar heilsame Weise am Leben zu erfreuen, und können dabei die Lebendigkeit anfachen – auf allen drei Ebenen: Intellekt, Body und Soul.

Die Meister des Jazz führen das vor. Ihre Musik ist ein cleverer Tanz, der die Seele anspricht. Es ist vor allem ein innerer Tanz, bei dem die Bewegungen mehr gefühlt als tatsächlich ausgeführt werden. So können sie viel raffinierter sein, als ein Körper ausführen kann.

          HÖRBEISPIEL: Sonny Rollins: St. Thomas (1956)

Die Jazz-Meister haben genauso wenig wie man selbst eine Erkenntnis, die die Welt harmonisiert. Was sie inspiriert, wie sie in ihrem Leben zurechtkommen, auch irren und scheitern, ist für mich als Hörer nebensächlich. Ihr Geschenk ist ihr Tanz und der kann Lebensfreude verschaffen, auch wenn Abgründe in Sichtweite sind. Dizzy Gillespie sagte, vom Tanzen hat noch niemand weinen müssen.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: The Khu (Divine Will) (1994)

Der Jazz-Musiker Eric Dolphy sagte einmal: Wenn man Musik hört und sie zu Ende ist, löst sie sich in Luft auf und kann nie mehr eingefangen werden.5) Genauso ist das Leben! Schon durch diesen flüchtigen Charakter kommt die Musik unserem Wesen nahe, besonders, wenn sie spontan gestaltet wird. So lange sie erklingt und man mitschwingt, lenkt sie den Blick weg von allem Unausweichlichen und belebt. Die Lebendigkeit auf beflügelnde und herzerwärmende Weise auszuschöpfen, darum geht es letztlich. Diese Botschaft beziehe ich aus der Musik der Jazz-Meister. Es ist ein kluger, beschwingter Zugang, der nicht die Illusion braucht, die Abgründe aus der Welt schaffen zu können.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Common Law (2002)

  

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  5. QUELLE: David Toop, Into the Maelstrom: Music, Improvisation and the Dream of Freedom, 2016, S. 231

 

 


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