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JAZZ SPIRIT – 3. Intellekt


          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Si Si (1951; Kenny Clarke, Schlagzeug)

Kenny Clarke entwickelte um 1940 das Schlagzeugspiel entscheidend weiter und arbeitete mit jungen Musikern wie Dizzy Gillespie und Charlie Parker zusammen.1) Rückblickend erklärte er, es habe in ihrer Musik eine Botschaft gegeben: Was immer du angehst, gehe es intelligent an!2)

Das ist zum Beispiel in folgender kunstvollen Komposition Charlie Parkers unüberhörbar.

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Confirmation (1953)

Die Botschaft, von der Kenny Clarke sprach, war im Grunde nicht neu. Sonny Rollins sagte über Coleman Hawkins, der bereits in den 1920er Jahren begann, das Saxofonspiel zu einer speziellen Kunst zu entwickeln: Ihm zuzuhören sei ein „wirklich intellektuelles Erlebnis“ gewesen.3) Hawkins habe viel harmonische Entwicklung und Bewegung in sein Spiel gebracht.4)

          HÖRBEISPIEL: Coleman Hawkins: Body and Soul (1939)

Der Ragtime-Pianist Eubie Blake berichtete von seinen Vorgängern, die er schon vor 1900 in Kneipen hörte. Er nannte sie „Piano-Haie“, weil sie in heißen Wettkämpfen einander ausstachen. Die meisten von ihnen konnten nicht notenlesen, aber dennoch in allen Tonarten spielen.5) „Wenn Du die alten Jungs spielen gehört hättest, wüsstest Du, was Improvisation ist und Akzentuierung“, sagte Eubie Blake.6) Diese Kunst des Klavierspiels, die in Kneipen blühte, wurde laufend weiterentwickelt und in den 1930er Jahren vom blinden Art Tatum auf ein atemberaubendes Niveau gebracht.

          HÖRBEISPIEL: Art Tatum: Liza (Take D) (1934)

Verblüffende Einfälle, blitzschnelles Reagieren, raffinierte Gestaltung, Meisterschaft – das hat im Jazz seit jeher einen hohen Stellenwert.

Aber meisterhafter Jazz ist nicht elitär. Er diente nie einer herrschenden Klasse zur Unterhaltung und Erbauung, wie die klassische europäische Musik dem Adel und der Kirche. Er drückte nie Macht, Herrlichkeit, wohlgefällige Ordnung aus, sondern ist die Musik von Außenseitern. Bis heute sind die Jazz-Meister außerhalb einer relativ kleinen Gruppe von Liebhabern nicht anerkannt. Sogar im Jazz-Bereich selbst bekamen die Meister zu ihren Lebzeiten oft nicht die Aufmerksamkeit, die sie verdient hätten7), und wurden später rasch in die Jazz-Geschichte verfrachtet, um Platz für neue Wellen zu machen, die auf dem Jazz-Markt propagiert werden.

Dazu kommt noch, dass die afro-amerikanischen Meister oft mehr als emotional stark bewertet werden, weniger als intelligent und intellektuell. Um 2011 sprach ein „weißer“ Pianist von „intellektuelleren schwarzen Musikern wie Steve Coleman, Greg Osby“ und so weiter. Steve Coleman kommentierte: Immer wieder höre man solche Aussagen im Zusammenhang mit Afro-Amerikanern. Nie sei von „intellektuelleren weißen Musikern“ die Rede, denn bei denen werde der Intellekt selbstverständlich unterstellt – bei Afro-Amerikanern offenbar nicht. Die Musik von Charlie Parker, Bud Powell, Thelonious Monk, Sonny Rollins, John Coltrane und so weiter sei sehr intellektuell. Ihre Art der Sensibilität sei jedoch vielen Leuten nicht vertraut und diese Andersartigkeit missverstehen die Leute als geringeren Intellekt.8)

Nach meiner Erfahrung ist gerade diese etwas andere Art der Intellektualität so bereichernd. Auch ohne Bezug auf europäische Bildung bringen Menschen komplexe Musik hervor. Zum Beispiel entwickelten in Kuba Nachfahren afrikanischer Sklaven die kunstvoll ineinander verflochtenen Rhythmen der Rumba-Musik – auf Plantagen, in Hinterhöfen der Armenviertel, neben schwerer Hafen- und Werftarbeit.9)

          HÖRBEISPIEL: Los Muñequitos de Matanzas: Recogidito (1983)

Aus dem Kreis der Zuschauer treten Tänzer heraus. Sie und die Trommler reagieren spontan aufeinander, fordern einander heraus und die Sänger steigern noch die Intensität, sodass eine gemeinschaftliche Aktion voller Lebendigkeit entsteht.

          HÖRBEISPIEL: Los Muñequitos de Matanzas: Recogidito (1983)

Besonders kunstvoll sind die Rhythmen, die in bestimmten afro-kubanischen Religionsgemeinschaften auf so genannten Batá-Trommeln gespielt werden. Ein Kenner kubanischer Musik bezeichnete diese Rhythmen als den „Gipfel der klassischen Musik Kubas“. Der christliche Anschein dieser Glaubensgemeinschaften diente ursprünglich als Tarnung, weil aus Afrika stammende Religionen verboten waren. Die Yoruba-Völker im heutigen Nigeria sprachen noch mithilfe der Batá-Trommeln. Diese sprachliche Komponente ging bei der Übertragung der Kultur nach Kuba verloren.10)

          HÖRBEISPIEL: Julio Suárez: Oru de Igbodu: Toque a Changó (1977)

Ein Pygmäen-Volk, das ohne Zivilisation im zentral-afrikanischen Regenwald lebte, brachte folgende hochkomplizierten Rhythmen hervor.

          HÖRBEISPIEL: Aka Pygmäen: Bonbo: Kolo ya ndongo (1972-1977)

Dazu wurde ein ebenso kompliziertes Geflecht von Stimmen gebildet.

          HÖRBEISPIEL: Aka Pygmäen: Apolo (1972-1977; Centrafrique: Anthologie de la Musique des Pygmées Aka)

Einem Musikethnologen gelang es nur mit aufwendiger Technik und durch viele Gespräche mit den Pygmäen, ihre Musik zu entschlüsseln. Der europäische Komponist György Ligeti war von dieser „hochentwickelten Musikkultur“ begeistert und sagte: Solche afrikanische Musik habe ihm eine ganz neue Denkweise eröffnet. Diese Anregungen könnten die gesamte moderne Konzertmusik Europas aus ihrer Sackgasse herausführen.11)

Für mich ergibt die Musik der Pygmäen ein bezauberndes, exotisches Bild ihres Gemeinschaftslebens in der Natur. Aber es ist nicht meine Welt. Ligetis Musik kommt aus meinem Kulturraum und meiner Zeit, spricht mich jedoch nicht an.12)

          HÖRBEISPIEL: György Ligeti: Piano Concerto, 3. Satz (1986)

Diese Musik mag interessant konstruiert sein, löst bei mir aber eine düstere Stimmung aus, kein befriedigendes musikalisches Empfinden, etwa durch elegante Melodik, Groove, geschmeidigen Sound. Ich schätze europäische Bildung und Intellektualität. In der Musik hat sie jedoch auch aus meiner Sicht in eine Sackgasse geführt. Die Meisterwerke des Jazz beleben hingegen in einer umfassenden Weise. Steve Coleman sagte, Musiker wie Charlie Parker erreichten die perfekte Balance zwischen Gefühl, Intellekt und dem Bestreben, sich selbst zu finden.13)

          HÖRBEISPIEL: Charlie Parker: Marmaduke (1948)

Steve Coleman erwähnte auch Ludwig van Beethovens berühmte Aussage, Musik könne eine „höhere Offenbarung“ sein als „alle Weisheit und Philosophie“. Was offenbart sie? Wohl das Wesen der menschlichen Existenz. Ich sehe im Leben, in der Natur, in den Gesellschaften eine gewaltige Komplexität. Ein wenig davon in der Musik wiederzufinden, kann aufregend sein. Das Leben und die Musik, die es abbildet, sollen sich aber auch gut anfühlen.

Lebendigkeit ist Bewegung in vielfältiger Form – geistige Beweglichkeit, lustvolles Bewegungsgefühl, emotionales Bewegtsein. Meisterhafter Jazz ist in all dem besonders stark. Seine intellektuelle Kraft ist in meinen Augen Teil seiner großartigen Lebendigkeit.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Djw (Set 2) (2017)

 

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  1. Mehr dazu: Link
  2. QUELLE: Dizzy Gillespie/Al Fraser, To Be Or Not To Bop, englischsprachige Ausgabe, 2009/1979, S. 142
  3. QUELLE: Peter Niklas Wilson, Sonny Rollins. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten, 1991, S. 13, mit Quellenangabe
  4. QUELLE: Peter Niklas Wilson, Sonny Rollins. Sein Leben, seine Musik, seine Schallplatten, 1991, S. 12f., mit Quellenangabe
  5. QUELLE: Eileen Southern, The Music of Black Americans, 1997, S. 328-330
  6. QUELLE: Ian Carr/Digby Fairweather/Brian Priestly, Rough Guide, Jazz, deutsch, 2004, S. 793
  7. Siehe zum Beispiel: Link
  8. Näheres: Link
  9. Näheres: Link
  10. Näheres: Link
  11. Näheres: Link
  12. Das folgende Stück soll deutliche Einflüsse afrikanischer Musik aufweisen. (QUELLE: Stephen Andrew Taylor, Ligeti, Africa and Polyrhythm, Zeitschrift The World of Music, Jahrgang 45, Nr. 2, 2003, S. 83–94, Internet-Adresse: www.jstor.org/stable/41700061)
  13. QUELLE: Howard Mandel, Future Jazz, 1999, S. 149

 

 


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