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JAZZ SPIRIT – 2. Erweiterung


          HÖRBEISPIEL: Marvin Gaye: Save the Children (1970)

Vieles in der Welt ist absolut nicht in Ordnung. Man blendet es großteils aus, aber im Hinterkopf ist es da. Es gibt Sichtweisen, die einen beruhigen sollen. Irgendwie sei alles nicht so schlimm oder eh auf dem richtigen Weg oder egal, solange es einen nicht selbst betrifft, oder im Sinn eines höheren Plans, den wir nicht verstehen. Will man seinen kritischen Geist und sein Einfühlungsvermögen bewahren, braucht man andere Mittel, das Wohlbefinden zu stärken. Musik eignet sich sehr gut dafür – vor allem, wenn sie nicht eine wohlige Wolke vorgaukelt, sondern einfach belebt. Die Jazz-Meister können das ausgezeichnet. Sie kommen aus der benachteiligten, verachteten, unterdrückten afro-amerikanischen Minderheit und sind daher damit vertraut, von Abgründen umgeben zu sein. Dem trotzen sie mit einer sehr cleveren Kunst, die ein großartiges Lebensgefühl vermittelt – trotz aller Abgründe. Sie sind die Meister darin und damit seit jeher eine Quelle des Lebensmutes für kritische Geister weltweit.

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong and His Hot Five: West End Blues (1928)

Diese strahlende, triumphierende Einleitung stammt aus der Frühzeit des Jazz und kann gewiss von vielen heutigen Trompetern nachgespielt werden. Aber entscheidend ist, wer dieser junge Louis Armstrong war, der diese Melodie hervorbrachte, und in welchem Kontext er sie so kraftvoll präsentierte. Er war in beinharter Armut aufgewachsen und konnte sich als Afro-Amerikaner im Showgeschäft nur eine clownhafte Rolle erkämpfen. 1931 kam er auf einer Tournee in seine Heimatstadt New Orleans zurück und gab ein Konzert. Zu Beginn des Konzerts trat ein Ansager auf. Der zögerte und sagte schließlich, er können diesen „nigger man“ nicht ansagen. Daraufhin verließ er die Bühne und Louis Armstrong stellte sich selbst vor.1)

Louis Armstrong reiste mit seiner Bigband in einem eigenen Bus durch die Südstaaten der USA. In Memphis hielten Polizisten sie an, da sie Louis Armstrong im Bus neben einer „weißen“ Frau sitzen sahen, der Frau seines Managers, mit der er etwas Geschäftliches besprach. Das verstieß nach Ansicht der Polizei gegen die Regeln der „Rassentrennung” und die gesamte Band wurde die ganze Nacht lang eingesperrt. Am nächsten Tag verkündete Louis Armstrong im Konzert, zu dem nur „weiße” Zuschauer zugelassen waren, er widme das nächste Stück der örtlichen Polizei, und begann dann folgenden Song zu singen. Darin geht’s es um einen Kerl, der ihm seine Frau ausgespannt hat.

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong: I’ll Be Glad When You’re Dead You Rascal You (1931)

Louis Armstrong sang lachend den Text des Songs: „Ich bin froh, wenn du tot bist, du Schuft. Ich freue mich zu Tode, wenn du die Erde verlässt, du Hund.“ Einer der Musiker erzählte, er habe es mit der Angst zu tun bekommen, denn viele der Polizisten dort waren Mitglied des Ku-Klux-Klans. Louis Armstrong verwob den Song jedoch so mit seinem Scat-Gesang, dass das Publikum den Text kaum verstehen konnte. Nach dem Konzert kamen Polizisten zu ihm und bedankten sich. Noch nie habe eine Band, die in die Stadt kam, sie so gewürdigt.2)

Louis Armstrong war ein unerschrockener, gewiefter Mann, der es verstand, inmitten von Abgründen seinen Spaß zu haben und Leute mit seiner lebensnahen Kunst und Lebendigkeit anzustecken. Er brauchte seine draufgängerische Art und entwaffnende Freundlichkeit, um im Ghetto, in dem er aufwuchs, zu bestehen und es zu verlassen. Überschritt er die unsichtbare Grenze seines Armenviertels, dann konnte es einem dunkelhäutigen Burschen wie ihm passieren, dass er mit dem Kopf in der Hand nach Hause kommt, wie er sagte. Schließlich kam er in der ganzen Welt umher, allerdings eingespannt in die Mühle eines Showgeschäfts, das viel von seinem kreativen Potential verschleuderte und ihm ein unwürdiges Image umhängte. Ein anderer Weg bot sich ihm nicht, denn Jazz war Unterhaltung und Afro-Amerikaner mussten eine Stufe tiefer stehen. Doch selbst als er einen spaßigen, grinsenden Opa abgab, blieb er im Kern der clevere, coole Typ aus dem Ghetto und ein ausgezeichneter Musiker. Im Jahr 2020 sagte der Saxofonist Steve Coleman über ihn, er sei ein melodisches Genie gewesen. Er habe einfach alles fühlen und hören können und gespürt, wie man die richtige Sache im richtigen Moment spielt – auch als er zum Beispiel in den 1950er Jahren den Gesang von Ella Fitzgerald spontan ergänzte.3)

          HÖRBEISPIEL: Ella Fitzgerald/Louis Armstrong: Cheek To Cheek (1956)

Viele Jahre nach Louis Armstrong entwickelt Steve Coleman seine Musik ohne Rücksicht auf das Musikgeschäft weiter – wagemutig und opferbereit. Auch er überschritt viele Grenzen und blieb zugleich seiner afro-amerikanischen Herkunftskultur verbunden.

Kürzlich holte ich sein folgendes Stück hervor. Ich hatte in Erinnerung, dass ich den Groove mochte, mir aber die Klänge zu schräg waren. Doch jetzt wollte ich gerade so etwas Abenteuerliches hören. Den folgenden Ausschnitt mit Steve Colemans Improvisation fand ich besonders spannend.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Tetragrams/Astrology I (2004/2005)

Steve Coleman spielte damals auch leichter Zugängliches, aber insgesamt war seine Musik schwieriger geworden als noch Mitte der 1990er Jahre, als er in Europa, besonders in Frankreich, ein beträchtliches Publikum anzog. Er versteht seine Musik als „Streitmacht für Kreativität und positive Dinge“. Sie soll eine bewusstseinserweiternde, erhebende Wirkung haben, wie die Musik von John Coltrane, Charlie Parker und so weiter, und einen mit Wucht treffen, sodass man mittendrinn ist und sie liebt oder hasst.4)

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: Resistance is Futile (2001)

Das Musikgeschäft veränderte sich; für anspruchsvollen Jazz wurden die Nischen enger; Auftrittsmöglichkeiten in Europa wurden zunehmend von heimischen Szenen besetzt. Steve Colemans Veröffentlichungen und Auftritte wurden rar und er konnte kaum mehr seinen Lebensunterhalt bestreiten. Im Jahr 2014 erhielt er dann einen angesehenen Preis verliehen. Der ältere Saxofonist Sonny Rollins rief ihn an, gratulierte ihm und erklärte: Diese Auszeichnung bedeutet nichts. Man muss weiter seine Arbeit machen, ist dieselbe Person wie davor. Er hat viele Preise bekommen, der Präsident der USA hat ihm Sachen um seinen Nacken gehängt, doch bedeutet das alles nichts. Noch nie hat eine Auszeichnung Musik hervorgebracht. Auszeichnungen können helfen, Engagements zu bekommen und Essen auf den Tisch zu bringen, sind sonst aber völlig belanglos. In den 1950er Jahren war davon die Rede, dass er der nächste Charlie Parker sei. Aber er hat auf dieses Gerede nicht gehört, sondern einfach weiter an seiner Musik gearbeitet. Denn auf das Gerede zu hören, kann einen ruinieren.5)

Steve Coleman teilte Sonny Rollins Sicht. In einem ihrer früheren Gespräche sagte Sonny Rollins, es gebe zwei Arten von Musik: eine, die erweitert, und eine, die verengt. Er möchte Teil der Tradition sein, die erweitert.6)

          HÖRBEISPIEL: Sonny Rollins: The Surrey With The Fringe On Top (1957)

Steve Coleman erhielt durch die Preisverleihung und durch weitere Auszeichnungen in den Jahren 2014/2015 mehr Beachtung und dadurch mehr Engagements. Die Preisgelder verwendete er für die Nachwuchsförderung, indem er mehrwöchige Aufenthalte mit seiner Band in verschiedenen Städten organisierte, bei denen er Workshops für junge Leute anbot.7)

Danach verschlechterte sich seine Lage wieder, obwohl seine Musik frisch und brillant war.

          HÖRBEISPIEL: Steve Coleman and Five Elements: twf – Set 1 (2017)

Die Musik der Jazz-Meister fordert heraus, sprengt das Auffassungsvermögen, dehnt den Geist. Ihre melodische und rhythmische Schönheit zieht an und ihre Leidenschaft macht sie eindringlich. Erlebt man diese komplexe Pracht in der Musik, so ist man für sie vielleicht auch sonst im Leben ein wenig aufgeschlossener.

  

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  1. QUELLE: Thomas Brothers, Louis Armstrong. Master of Modernism, 2014, Kindle-Ausgabe, S. 419
  2. QUELLE: Thomas Brothers, Louis Armstrong. Master of Modernism, 2014, Kindle-Ausgabe, S. 1f.
  3. QUELLE: von der Entertainment-Firme Gail W. Boyd in der Reihe Alternative Venues for Jazz am 8. Dezember 2020 auf Facebook veröffentlichter Video-Vortrag von Steve Coleman
  4. Näheres: Link
  5. QUELLE: von Preston Williams am 6. Februar 2021 mit Steve Coleman geführtes Interview, veröffentlicht auf YouTube unter dem Titel Jazz talk episode 80 Steve Coleman, Internet-Adresse: https://www.youtube.com/watch?v=y7OUQUGtI70&ab_channel=JazzTalk
  6. Näheres: Link
  7. Näheres: Link und Link

 

 


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