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JAZZ SPIRIT – 12. Politik (1950-1970)


Mitte der 1950er Jahre wurde dem Jazz eine zweischneidige politische Funktion verliehen – vom amerikanischen Außenministerium. Die USA stellten sich auf der internationalen Bühne als Hüter von Demokratie und Freiheit dar, gegenüber Diktatur und Menschenrechtsverletzung im Kommunismus. Zu diesem Zweck organisierte das Außenministerium internationale Tourneen mit Kulturprogrammen. Ein kämpferischer afro-amerikanischer Kongress-Abgeordneter, der Ehemann der Pianistin Hazel Scott, schlug Jazz als amerikanisches Aushängeschild vor und diese Idee setzte sich durch.1)

Denn einerseits entzogen dem Jazz zwar Rock and Roll und Rhythm and Blues viel an Popularität. Zugleich gewann der Jazz jedoch in gebildeten Kreisen zunehmend Anerkennung als kunstvolle, moderne Musik Amerikas – dank der langjährigen Bemühungen der Jazz-Kritiker. Die waren größtenteils „weiß“ und betrachteten den Jazz meistens „farbenblind“, wie sie sagten, – losgelöst von Hautfarbe, von ethnischer und kultureller Zugehörigkeit.2) Das widersprach dem afro-amerikanischen Jazz-Verständnis, gefiel aber der Regierung. Denn die wollte das so genannte Rassenproblem kaschieren, das dem Ansehen im Ausland schadete.3) Gemischte Jazz-Bands (also mit „weißen“ und afro-amerikanischen Musikern) sollten ein modernes, kultiviertes, demokratisches Amerika präsentieren. Jazz-Kritiker wurden als Experten zugezogen4) und nachdem Louis Armstrong und Duke Ellington nicht verfügbar waren, entsandte das Außenministerium 1956 den afro-amerikanischen Trompeter Dizzy Gillespie auf eine Tournee in den Nahen und Mittleren Osten.5)

Mithilfe der staatlichen Finanzierung konnte Dizzy Gillespie wieder mit einer Bigband spielen, nachdem er seine frühere ein paar Jahre zuvor schweren Herzens auflösen musste.6)

          HÖRBEISPIEL: Dizzy Gillespie: The Champ (1956)

Dizzy Gillespie fühlte sich als erster Jazz-Musiker, der die USA repräsentierte, geehrt, identifizierte sich aber nicht mit den politischen Anliegen des Außenministeriums. Er sagte, er wisse, was man ihnen drei Jahrhunderte lang angetan hat, und denke nicht daran, irgendwelche Ausreden zu machen. Auf der Tournee bestand er darauf, junge Leute von der Straße, die sich keine Eintrittskarte für sein Konzert leisten konnten, kostenlos herein zu lassen. Er nahm Kontakt zu einheimischen Musikern auf, trieb seine Späße und beantwortete offen die vielen Fragen zum so genannten Rassenproblem.7) Mit all seinen Abweichungen von den Vorgaben des Außenministeriums vermittelte er ein gewinnendes, weltoffenes Bild, das dem politischen Zweck der Tournee letztlich besser diente, als das Ministerium erwartet hatte.8) Sofort engagierte es die Band für eine weitere Tournee, nun durch Südamerika.9)

          HÖRBEISPIEL: Dizzy Gillespie: Begin the Beguine (1956)

Auf Dizzy Gillespies großen Erfolg reagierten rassistische Politiker mit umso heftigeren Attacken. Daher wurde für die nächste Tournee nach Asien10) der „weiße“ Bigband-Leiter Benny Goodman ausgewählt. Seine Swing-Musik aus den 1930er Jahren war überholt und er neigte schon immer zur klassischen europäischen Musik, weg vom afro-amerikanischen Charakter. Sein Jazz-Verständnis war „farbenblind“ und Rassenprobleme bezeichnete er schlicht als überwunden. Das alles machte ihn für konservative Politiker akzeptabel.11)

Eine weitere bedeutende Tournee im Auftrag des Außenministeriums führte den „weißen“ Pianisten Dave Brubeck 1958 in das damals kommunistische Polen und dann weiter bis nach Indien.12) Dave Brubecks Musik hatte ebenfalls eine Nähe zur klassischen Musik, galt aber als modern und war unter jungen studierten Hörern beliebt, da Brubeck oft in Hochschulen auftrat. Zur afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung äußerte er sich verständnisvoll und engagiert. Er komponierte ein kritisches Musical mit dem Titel The Real Ambassador, der wahre Botschafter, und gab diese Rolle Louis Armstrong.13)

          HÖRBEISPIEL: Dave Brubeck/Louis Armstrong: The Real Ambassador (1961)

Who's the real ambassador?
Certain facts we can’t ignore.
In my humble way – I'm the USA!
Though I represent the government,
the government don't represent
some policies I'm for!

Oh, we learned to be concerned
about the constitutionality.
In our nation, segregation
isn't a legality.
Soon our only differences
will be in personality.
That's what I stand for.
Who's the real ambassador?
Yeah, the real ambassador?
Wer ist der wahre Botschafter?
Gewisse Tatsachen können wir nicht ignorieren.
Auf meine bescheidene Weise bin ich die USA!
Obwohl ich die Regierung vertrete,
vertritt die Regierung nicht
einige Grundsätze, für die ich bin!

Oh, wir haben gelernt,
auf die Verfassungsmäßigkeit zu achten.
In unserem Land ist Segregation („Rassentrennung“)
nicht legal.
Bald werden unsere einzigen Unterschiede
in der Persönlichkeit sein.
Dafür stehe ich.
Wer ist der wahre Botschafter?
Ja, der wahre Botschafter?

Tatsächlich war Louis Armstrong schon lange vor den Kulturprogrammen des Außenministeriums ein Botschafter der amerikanischen Jazz-Musik, zunächst vor allem in Europa. Seine Musik klang Mitte der 1950er Jahre bereits sehr traditionell, mit ihrem übermütigen Schwung aber nach wie vor vital.

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong: Muskrat Ramble (1955, Crescendo Club)

Im Jahr 1956 trat Louis Armstrong zum ersten Mal in Afrika auf, und zwar im heutigen Ghana, das damals noch britische Kolonie war. Sein Auftritt war ein fulminantes Fest.

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong: All For You, Louis (Sly Mongoose) (1956, Accra)

Im Jahr 1957 plante das Außenministerium, Louis Armstrong zu engagieren, für eine Tournee in die Sowjetunion. Ein Gouverneur der Südstaaten setzte damals das Militär ein, um junge Afro-Amerikaner am Zutritt zu einer öffentlichen Schule zu hindern, obwohl der Oberste Gerichtshof die so genannte „Rassentrennung“ in öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärt hatte. Der Präsident der USA zögerte wochenlang einzuschreiten. Louis Armstrong sagte zu einem Reporter: „So wie sie mein Volk im Süden behandeln, kann die Regierung zur Hölle fahren“. Er werde nicht für sie in die Sowjetunion reisen. Was sollte er den Leuten dort sagen, wenn sie ihn fragen, was mit seinem Land los ist. Diese Aussage ging um die Welt.14)

Sonst vermied Louis Armstrong aber weiterhin politische Äußerungen. Jüngere Musiker kritisierten, wie er sich in seinen Shows zum Clown machte, und dass er sich nicht weigerte aufzutreten, wenn das Publikum nach Hautfarbe getrennt wurde. Doch kam Louis Armstrong aus einer anderen Zeit und sein Weg war nur im Showgeschäft möglich, das ihm keine würdigere Rolle überließ. Erst als der Jazz ein ausreichend großes Publikum hatte, das ihn als ernsthafte Musik schätzt, konnten sich Jazz-Musiker vom Showgeschäft lösen. Den Grundstein dafür legte Louis Armstrong und seine spaßige, herzliche Art verschaffte der afro-amerikanischen Minderheit weltweit Sympathie. Ihre Anliegen konnten dann andere nachdrücklicher formulieren.

          HÖRBEISPIEL: Louis Armstrong: Skokiaan (1954)

Im Jahr 1958 forderte der junge Saxofonist Sonny Rollins auf folgende Weise eine Befreiung der afro-amerikanischen Minderheit, der er angehörte: Er nannte sein neues Album Freedom Suite (Freiheits-Suite) und erklärte im Begleittext des Albums: Amerika ist tief in der afro-amerikanischen Kultur verwurzelt und dennoch werden Afro-Amerikaner verfolgt, unterdrückt und unmenschlich behandelt.

Da die Schallplattenfirma negative Reaktionen befürchtete, stellte sie neben Sonny Rollins Aussage einen langen Text, der seine Aussage abschwächte und verschleierte. Trotzdem wurde in der Presse massive Kritik erhoben, worauf die Plattenfirma den Verkauf des Albums stoppte und es unter einem unverfänglichen Titel, ohne Sonny Rollins Aussage, neu veröffentlichte.15) Sonny Rollins gab den Versuch, mit seiner Musik ein politisches Signal zu senden, auf und vermied von da an auch in Interviews politische Kritik.16)

          HÖRBEISPIEL: Sonny Rollins: The Freedom Suite (1958, mit Max Roach)

Zwei Jahre nach der Freedom Suite, also im Jahr 1960, brachte der Schlagzeuger Max Roach mithilfe einer kleinen Plattenfirma sein Album We Insist! Freedom Now Suite heraus. Auf der Plattenhülle war eine Aktion der Bürgerrechtsbewegung abgebildet, die bereits voll im Gang war. Aber nicht nur Titel und Plattenhülle drückten Protest aus, sondern auch die Musik selbst – vor allem durch die gesungenen Parts, die bis zu Schreien gingen und von Abbey Lincoln vorgetragen wurden. Die Suite stellt den afro-amerikanischen Leidensweg dar und die Musik steht ganz im Dienst des bedrückenden Themas. Man kann sie nicht davon losgelöst hören – ähnlich, wie Strange Fruit unweigerlich mit den entsetzlichen Bildern der Gelynchten verbunden ist. Hat man die politische Botschaft erfasst, dann besteht wenig Grund, sich diese Musik wiederholt anzuhören.17) Sonny Rollins Freedom Suite hingegen bietet unabhängig vom politischen Bezug immer wieder Hörgenuss.

Max Roach und Abbey Lincoln setzten ihr politisches Engagement fort und wurden deshalb von Plattenfirmen und Veranstaltern gemieden. Max Roachs Karriere knickte ein und Abbey Lincoln verschwand für Jahrzehnte von der Bildfläche.18)

          HÖRBEISPIEL: Max Roach: Freedom Day (1960, mit Booker Little)

Kurz nach der Freedom Now Suite nahm dieselbe kleine Plattenfirma das Album Charles Mingus Presents Charles Mingus auf.19) In einem Stück dieses Albums verhöhnt Charles Mingus den rassistischen Gouverneur, der Afro-Amerikaner von öffentlichen Schulen aussperrte. Die Musik untermalt den ätzenden Vortrag mit Spott und Häme.

          HÖRBEISPIEL: Charles Mingus: Original Faubus Fables (1960)

Oh, Lord, no more Ku Klux Klan.
Name me someone who's ridiculous, Dannie!
Governor Faubus!
Why is he so sick and ridiculous?
He won't permit integrated schools.
Then he's a fool.
Boo, Nazi Fascist supremists!
Boo, Ku Klux Klan, with your Jim Crow plan!
Oh Gott, keinen Ku-Klux-Klan mehr.
Nenn mir einen, der lächerlich ist, Dannie!
Gouverneur Faubus!
Warum ist er so krank und lächerlich?
Er will keine integrierten Schulen zulassen.
Dann ist er ein Trottel.
Pfui, Nazi, Faschist, Rassisten!
Pfui, Ku-Klux-Klan, mit eurem Jim-Crow-Plan!

Einige Monate später wurde die Plattenfirma aufgelöst, nachdem sie kaum länger als ein Jahr bestand.20) Sie hatte auch ein Album21) des Pianisten Cecil Taylor herausgebracht, der damals neben dem Saxofonisten Ornette Coleman jene Bewegung auslöste, die später Free-Jazz genannt wurde. Ornette Coleman und Cecil Taylor waren stilistisch weit voneinander entfernt und auch ihre Nachfolger spielten keineswegs in einem einheitlichen Stil. Doch ist der Ausdruck Free-Jazz insofern für die gesamte Bewegung passend, als sich diese Musiker von den komplizierten Strukturen der Bebop-Bewegung befreiten. Manche von ihnen erreichten mit eigenen Konzepten wiederum eine gewisse Komplexität und eröffneten so ein weites Feld für neue Gestaltungsmöglichkeiten. Andere reduzierten einfach die Struktur und rückten expressive Klänge in den Vordergrund. Saxofone heulten und schrien, Schlagzeuge tobten, Rhythmen wurden aufgelöst und anhaltende Dissonanz ersetzte differenzierte Harmonien.

          HÖRBEISPIEL: Cecil Taylor: Steps (1966)

Die aufwühlenden Klänge des Free-Jazz verstanden viele als Brechen von Konventionen, als Widerstand und Befreiung – auch im politischen Sinn, im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung, dem Anti-Kolonialismus und dem Vietnamkrieg.22)

Der widerständige Charakter widerstrebte dem etablierten Jazz-Geschäft. Das Überbordwerfen musikalischer Qualitäten, wie sie ältere Musiker pflegten, vertrieb viele Jazz-Fans. Und die Rockwelle ließ das Interesse junger Leute am Jazz generell schwinden. Free-Jazz war für Klubbesitzer, Plattenfirmen und Konzertveranstalter uninteressant. Daher begannen Musiker und einzelne Unterstützer, im Untergrund selbst Auftritte und Aufnahmen zu organisieren, und es bildete sich eine kleine Anhängerschaft.23)

Aufwind erhielt der Free-Jazz dann in Europa. Hier fanden die abenteuerlichen Klänge ein beträchtliches Publikum – unter jungen Leuten, die mit der Studentenbewegung, mit gesellschaftskritischen Ideen sympathisierten. Älteren Musikern konnte es passieren, dass sie ausgepfiffen wurden, weil ihr Stil als reaktionär missverstanden wurde, und so mancher Free-Jazzer punktete mit rebellischen, politischen Signalen anstelle wirklich guter Musik.24) Rebellion war in der damaligen Aufbruchsstimmung reizvoll – ähnlich wie das Ausflippen für die Beatniks der Bebop-Ära und im frühen Jazz hatten viele Wildheit und Urwüchsigkeit gesehen. Seit jeher wird viel in den Jazz hineinprojiziert.

Dem Free-Jazz kam außerdem das europäische Kunstverständnis der so genannten Moderne entgegen, das man bereits aus der Schule kennt. Verwirrendes, Verstörendes gilt oft als künstlerisch anspruchsvoll.

          HÖRBEISPIEL: Albert Ayler: Spirits Rejoice (1965)

Der Saxofonist Archie Shepp, der eine Zeit lang Cecil Taylors Band angehörte, hatte Theaterwissenschaften studiert und setzte sich mit scharfgeschliffenen Aussagen für eine Befreiung der afro-amerikanischen Minderheit ein. In den USA hatte er so gut wie keine Auftrittsmöglichkeiten. In Europa hingegen war er hoch geschätzt, obwohl sein Spiel doch deutlich unter dem Niveau der Meister blieb und er auch kein innovatives Musikkonzept hatte.25)

          HÖRBEISPIEL: Archie Shepp: The Lowlands (1969)

Im Zusammenhang mit der Free-Jazz-Bewegung wurde viel über Politik gesprochen. Da sich diese Bewegung im Untergrund abspielte, konnte man sich unverblümt äußern. Panafrikanische Identität wurde offen ausgelebt. Aber selbst in diesem Jazz-Bereich vermittelte die Musik selten eindeutige politische Aussagen. Archie Shepp tat es, der „weiße“ Bassist Charlie Haden bekundete Sympathie für Kommunismus, doch gibt es wenige solche Beispiele. Die Initiatoren der Free-Jazz-Bewegung waren keine Aktivisten, vielmehr extreme Individualisten, die in ihrer eigenen Welt lebten. In Interviews mit Ornette Coleman und Cecil Taylor ist oft schwer erkennbar, wovon sie überhaupt reden. Die jungen Saxofonisten Albert Ayler und Pharoah Sanders bewegten sich in spirituellen Sphären, was sie für John Coltrane interessant machte.

Benefizkonzerte für die Bürgerrechtsbewegung wurden vor allem von älteren Musikern geleistet, die ein nennenswertes Publikum anzogen: von Dizzy Gillespie, Cannonball Adderley, Max Roach, Count Basie, Thelonious Monk und so weiter26). Noch wesentlich bedeutender war die Unterstützung durch wirklich populäre Personen, zum Beispiel durch den Sänger Harry Belafonte. Free-Jazz war jene Art von Jazz, die die meisten Leute am allerwenigsten hören wollten. Free-Jazz-Musiker kämpften vor allem um ihre eigene Existenz und profitierten eher von den politischen Bewegungen, als dass sie effektiv zu ihnen beitragen konnten.

          HÖRBEISPIEL: Pharoah Sanders: Hum-Allah-Hum-Allah-Hum-Allah (1969, mit Leon Thomas)

Aufgeschlossenen Hörern konnte die Free-Jazz-Bewegung jedoch besonders starke Eindrücke vom kulturellen und existentiellen Kampf der afro-amerikanischen Minderheit verschaffen. In Charlie Parkers wunderbarer Musik war das Elend seiner Existenz kaum präsent. John Coltrane hingegen griff Ausdrucksweisen der Free-Jazz-Bewegung auf, um tiefes Empfinden auszudrücken, und er verkörperte geradezu das schmerzliche Ringen seiner Kultur. Während Dizzy Gillespie noch das Publikum mit Späßen unterhielt und zugleich mit cleverer Musik herausforderte, konfrontierte es Coltrane mit erschütternder Offenheit und Ernsthaftigkeit.

          HÖRBEISPIEL: John Coltrane: Compassion (1965)

Das amerikanische Außenministerium organisierte laufend Tourneen mit Jazz-Musikern und setzte dabei auf etablierte Musiker. Duke Ellington erwies sich auf solchen Tourneen durch alle Kontinente als besonders geeigneter Jazz-Diplomat – von 1963 bis zu seinem Tod 1974. Diese Tourneen waren für ihn eine Möglichkeit, die Kultur seines Volkes international zu präsentieren, und verschafften ihm eine längst überfällige, vom Kultur-Establishment vorenthaltene Anerkennung als herausragender Komponist Amerikas.

          HÖRBEISPIEL: Duke Ellington: Isfahan (1964)

1966 trat Duke Ellington im Auftrag des Außenministeriums auf dem ersten Festival of Black Arts (damals noch Negro Arts) auf, im west-afrikanischen Senegal. Dieses Festival zelebrierte die Verbundenheit afrikanischer und afro-amerikanischer Kultur im panafrikanischen Sinn, allerdings in einer Europa- und Amerika-freundlichen Weise, die die Oberschicht ansprach und deshalb umstrittenen war. Harry Belafonte und einige andere Afro-Amerikaner27) boykottierten das Festival.28)

Im darauffolgenden Jahr (1967) entsandte das Außenministerium den Pianisten Randy Weston auf eine Tournee durch Afrika. Der war schon als Kind mit dem Panafrikanismus vertraut geworden – durch seinen Vater, einem Anhänger Marcus Garveys. 1960 hatte Randy Weston mit einer kleinen Plattenfirma sein Album Uhuru Afrika aufgenommen. Uhuru bedeutet Freiheit in der afrikanischen Sprache Kiswahili. Das Album wurde damals wenig beachtet.29) Auf seiner Afrika-Tournee im Jahr 1967 begeisterte seine Kombination von Jazz mit afrikanischer Musik dann hingegen ein beträchtliches Publikum – auch weil mittlerweile Solidarität zwischen afro-amerikanischer Bürgerrechtsbewegung und afrikanischer Unabhängigkeitsbewegung verbreitet war, auf beiden Seiten.30) Nach dieser erfolgreichen Tournee verlegte Randy Weston seinen Wohnsitz nach Marokko, weil er Afrika als seine eigentliche Heimat betrachtete31).

          HÖRBEISPIEL: Randy Weston: African Cookbook (1964)

In Randy Westons Augen hatte sich der avantgardistische Jazz zu weit vom Leben der Menschen entfernt. Allerdings sprach auch seine Musik nicht die breite Bevölkerung an, sondern gebildete Schichten – in Afrika wie in Amerika.32) Junge Afrikaner waren vor allem für populäre afro-amerikanische Musik empfänglich, zum Beispiel von James Brown, der mit Songs wie Say It Loud – I'm Black and I'm Proud das Selbstbewusstsein vieler stärkte und dabei hervorragende Tanzmusik lieferte.

Daher begann das amerikanische Außenministerium, in Afrika neben Jazz auch populäre afro-amerikanische Musik einzusetzen.33) Für Tourneen in die kommunistischen Diktaturen Osteuropas nutzte das Ministerium hingegen auch avantgardistischen Jazz. Denn dort wurde das Aufbrechen musikalischer Konventionen mit Widerstand gegen die staatliche Repression in Verbindung gebracht und geschätzt. Das war im Sinn des amerikanischen Kampfs gegen den Kommunismus. So kam zum Beispiel Ornette Coleman 1971 nach Tschechien, Polen, in das damalige Jugoslawien, nach Ungarn und Rumänien.34)

          HÖRBEISPIEL: Ornette Coleman: Written Word (1971, Belgrad)

Im nächsten Video geht es um die Zeit von 1970 bis in die Gegenwart.

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. Quellen: Ingrid Monson, Freedom Sounds, 2007, S. 111f.; Penny M. Von Eschen, Satchmo Blows Up the World, 2004, Kindle-Version, S. 6f.
  2. Eitan Y. Wilf: Wissenschaftler hätten überzeugend dargelegt, dass die Rhetorik der Farbenblindheit des Jazz oft dazu diente, die sozialen Ungleichheiten zu verschleiern, mit denen afroamerikanische Jazzmusiker fertig werden mussten. (Quelle: Eitan Y. Wilf, School for Cool, 2014, Kindle-Version, S. 160); Burton W. Peretti: Auch wenn Jazzkritiker und Promoter selten schwarz waren, so hätten schwarze Musiker die Essenz des Jazz und viele seiner Stile definiert. (Quelle: Burton W. Peretti, Jazz in American Culture, 1997, S. 183)
  3. Quelle: Penny M. Von Eschen, Satchmo Blows Up the World, 2004, Kindle-Version, S. 17-19
  4. vor allem Marshall Stearns
  5. Quelle: Ingrid Monson, Freedom Sounds, 2007, S. 112f.
  6. Quelle: Dizzy Gillespie/Al Fraser, To Be Or Not To Bop, englischsprachige Ausgabe, 2009/1979, S. 357
  7. Quelle: Dizzy Gillespie/Al Fraser, To Be Or Not To Bop, englischsprachige Ausgabe, 2009/1979, S. 414-423
  8. Quelle: Ingrid Monson, Freedom Sounds, 2007, S. 118-120
  9. Quelle: Ingrid Monson, Freedom Sounds, 2007, S. 119 und Table 4.1 auf S. 115
  10. von Thailand bis Japan
  11. Quelle: Penny M. Von Eschen, Satchmo Blows Up the World, 2004, Kindle-Version, S. 43-45
  12. Quelle: Penny M. Von Eschen, Satchmo Blows Up the World, 2004, Kindle-Version, S. 47
  13. Quelle: Penny M. Von Eschen, Satchmo Blows Up the World, 2004, Kindle-Version, S. 48 und 78-90
  14. Quelle: Penny M. Von Eschen, Satchmo Blows Up the World, 2004, Kindle-Version, S. 63f.
  15. Näheres und Quelle: Link – Frank Kofsky: Orrin Keepnews, der Produzent des Albums und Miteigentümer der Plattenfirma, habe ihm erklärt, dass das Freedom-Suite-Album nur deshalb zurückgezogen und unter einem neuen Titel wiederveröffentlicht wurde, weil es sich nicht gut verkaufte, nicht aus politischen Gründen. Kofsky führte mehrere Argumente an, die dieser Aussage widersprechen. (Quelle: Frank Kofsky, John Coltrane and the Jazz Revolution of the 1960s, 2011/1970, S. 111-114) Selbst, wenn die Zurückziehung des Albums bloß wegen der Verkaufszahl erfolgte und von einer Beseitigung der politischen Aussage ein besseres Geschäft erwartet wurde, deutet das darauf hin, dass die politische Aussage bei einer größeren Zahl von potentiellen Käufern auf Ablehnung stieß.
  16. Quelle: Peter Niklas Wilson, Sonny Rollins. Sein Leben. Seine Musik. Seine Schallplatten, 1991, S. 68-71
  17. Ingrid Monson: Die Politik der Freedom Now Suite habe viel mehr Aufmerksamkeit erhalten als die Musik. (Quelle: Ingrid Monson, Revisited! The Freedom Now Suite, 1. September 2001, Internet-Adresse: https://jazztimes.com/features/revisited-the-freedom-now-suite/)
  18. Quellen: Abbey Lincoln/Stanley Crouch, Die bittersüssen Jahre. Die Sängerin Abbey Lincoln im Gespräch mit Stanley Crouch, Zeitschrift Du, Jahrgang 56, 1996, Heft 12, S. 57-59; Ingrid Monson, Freedom Sounds, 2007, S. 223 und 253f.
  19. Aufnahme der Freedom Now Suite: 31. August und 6. September 1960; Aufnahme von Charles Mingus Presents Charles Mingus: 20. Oktober 1960
  20. Quellen: Internet-Adressen: https://candidrecords.com/pages/the-candid-story und https://www.jazzdisco.org/candid-records/
  21. The World Of Cecil Taylor (aufgenommen im Oktober 1960)
  22. Schlagzeuger Rashied Ali: Wir hatten die Bürgerrechtssache laufen, Martin Luther King, Malcolm X, die Black Panthers. Es geschah so viel Verschiedenes. Leute schrien nach ihren Rechten und wollten gleichgestellt und frei sein. Und die Musik habe natürlich diese ganze Periode widergespiegelt … Diese ganze Zeit beeinflusste absolut die Art, wie wir spielten. Ich denke, hier kam diese wirklich freie Form ins Spiel. Jeder wollte von der starren Form wegkommen, weg von dem, was davor passierte. Sie wollten sich auf das beziehen, was jetzt geschah, und ich bin mir sicher, dass diese Musik aus dieser ganzen Sache kam. (Quelle: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 582) --- Ingrid Monson: Um 1960 seien auch die ästhetischen Streitfragen hochgradig politisiert worden. Im Laufe der folgenden paar Jahre hätten viele Avantgarde-Jazz-Musiker eine direkte Beziehung zwischen einer musikalischen Modernität, die frei von Akkordwechseln, vorgegebener Tonalität, klangfarblicher Orthodoxie und der Verpflichtung zu swingen ist, und einem radikalen, entschlossenen politischen Bewusstsein behauptet. Ein musikalischer „Outside”-Zugang sei folglich für viele auf ein Anzeichen für politische Kritik an der Rassen-Ungerechtigkeit hinausgelaufen. Jene, die ihren Jazz mehr „inside“ mochten, seien aber nicht unbedingt politisch konservativer gewesen und umgekehrt die Verfechter des „New Thing“ nicht unbedingt aktivistischer in ihrer Orientierung. (Quelle: Ingrid Monson, Freedom Sounds, 2007, S. 100) --- John Gennari über Jazz-Kritik: Die 1960er Jahre stechen als eine Periode besonders intensiver Politisierung und hitziger Debatte heraus, überschattet von den größeren politischen und sozialen Ereignissen, die die US-amerikanische Gesellschaft erschütterten, besonders vom Freiheitskampf, den die afro-amerikanischen Bürgerrechts-Kampanen und schwarz-nationalistischen Kampanen dieser Zeit verkörperten. Beim Schock des Neuen sei es damals um mehr als Ästhetik und Geschmack gegangen: um die neue Politik schwarzer Behauptung in der öffentlichen Sphäre, um Politik rassischer Präsenz und Stimme in dem, was weiterhin ein weiß dominiertes Establishment der Kritiker und des Geschäfts blieb. (Quelle: John Gennari, Blowin‘ Hot and Cool, 2006, S. 253)
  23. Quellen: John Litweiler, Das Prinzip Freiheit, 1988/1984, S. 111; Ekkehard Jost, Sozialgeschichte des Jazz, 2003, S. 210f. und 248-266
  24. Quelle bezogen auf Italien: Ekkehard Jost, Jazzmusiker. Materialien zur Soziologie der afro-amerikanischen Musik, 1982, S. 146f. und 159-161; Näheres bezogen auf Deutschland: Link; Val Wilmer bezogen auf Frankreich: „Im Jahr 1975 hatte das Interesse der Franzosen an ihren amerikanischen Besuchern merklich nachgelassen. Diese wurden der politischen Rolle nicht mehr gerecht, die einer der Gründe dafür gewesen war, dass man sie so enthusiastisch empfangen hatte.“ (Quelle: Val Wilmer, Coltrane und die jungen Wilden, 2001, S. 269)
  25. Betty Carter im Jahr 1994: Archie Shepp bemühe sich erst seit einigen Jahren „Musik zu spielen. Er hat früher nie begriffen, dass das Einzige und Einzigartige, was er zu bieten hatte, sein Big-fat-juicy-Tenor-Sound war. Aber damals kam halt eine ganze Reihe solcher Typen daher, die ihren großen Deal darin rochen, euch zu verarschen. Sie hatten zwar keinen Schimmer von Musik, kauften sich aber Instrumente und fuhren nach Europa, um euch einen zu blasen. Ich kenne sie persönlich. Hört sich hart an, aber so war’s damals eben. … Ich habe jedenfalls noch nicht einen unter den jungen Musikern getroffen, der einen dieser Avantgardisten als Vorbild nannte, als großen Einfluss oder Förderer.“ (Quelle: Christian Broecking, Der Marsalis-Faktor, 1995, S. 50f.)
  26. Quelle: Ingrid Monson, Freedom Sounds, 2007, S. 197, 201 und 222
  27. zum Beispiel Sidney Poitier, James Baldwin und Ralph Ellison
  28. Quelle: Penny M. Von Eschen, Satchmo Blows Up the World, 2004, Kindle-Version, S. 154-158
  29. Quelle: Ingrid Monson, Freedom Sounds, 2007, S. 151
  30. Quelle: Link (siehe dort insbesondere Fußnote 118)
  31. Randy Weston: Afrika, die Wiege der Zivilisation, sei die Heimat seiner Vorfahren, die Heimat seines Geistes und seiner Seele. Afrika sei schon immer ein Teil von ihm gewesen, von Kindheit an tief in seiner Psyche gewesen, und er habe gewusst, dass er früher oder später dorthin gehen musste. 1961 habe er es schließlich getan und 1963 erneut – beide Male nach Nigeria. Dann tourte er mit seinem Sextett 1967 durch 14 Länder West- und Nordafrikas und später in diesem Jahr sei er zurückgekehrt um zu bleiben. (Quelle: Randy Weston/Willard Jenkins, African Rhythm. The Autobiography of Randy Weston, 2010, Schlusskapitel Randy Weston … Philosophically Yours)
  32. Quelle: Penny M. Von Eschen, Satchmo Blows Up the World, 2004, Kindle-Version, S. 175-179
  33. Quelle: Penny M. Von Eschen, Satchmo Blows Up the World, 2004, Kindle-Version, S. 149
  34. Quelle: Penny M. Von Eschen, Satchmo Blows Up the World, 2004, Kindle-Version, S. 185-189 und 197f.

 

 

 

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