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Hawk & Prez


„Hawk“ (englisch Falke) oder „Bean“ (Bohne) wurde der Tenor-Saxofonist Coleman Hawkins (geboren 1904) genannt und „Prez“ oder „Pres“ (Abkürzung für President) der Tenor-Saxofonist Lester Young (geboren 1909). Hawkins kam im Jahr 1922 aus Kansas City nach New York, wurde zwei Jahre später Mitglied der Bigband von Fletcher Henderson und entwickelte jene ausdrucksstarke Spielweise, durch die das Tenor-Saxofon erst zu einem der zentralen Instrumente im Jazz wurde. Young zog mit der Count-Basie-Bigband im Jahr 1936 ebenfalls von Kansas City nach New York. Bereits zuvor war er mit Hawkins bei einer legendären Jam-Session in Kansas City zusammengetroffen: Hawkins hatte nämlich im Jahr 1934 mit dem Fletcher-Henderson-Orchester ein Gastspiel in Kansas City und gelangte nach dem Auftritt in ein Nachtlokal, in dem die in dieser Stadt ansässige Count-Basie-Band spielte. Lester Young und weitere damals nur im Umfeld von Kansas City bekannte Tenor-Saxofonisten, unter ihnen Ben Webster, nutzten die Gelegenheit, Hawkins als führenden Tenor-Saxofon-Meister zu einem Wettkampf herauszufordern, der dann die ganze Nacht dauerte. Hawkins sollte bereits auf dem Weg zum nächsten Auftrittsort sein, versuchte jedoch immer noch etwas zu spielen, womit er Webster und Young schlagen kann. Das gelang ihm nach Aussage der beteiligten Pianistin Mary Lou Williams jedoch nicht, sodass er schließlich aufgab und mit seinem Auto losraste, um zur Fletcher-Henderson-Band zu stoßen. Young habe zwar zunächst vergleichsweise kraftlos geklungen und mehrere Chorusse gebraucht, bis er in Fahrt kam, aber dann sei er unschlagbar gewesen. Er habe viele Chorusse spielen können, ohne sich zu wiederholen.1)

Youngs leichter Ton, der später von vielen geschätzt wurde, galt damals noch eher als seine Schwachstelle. Jo Jones, der Schlagzeuger der Basie-Band, wies auf den viel kraftvolleren Ton von Herschel Evans hin, Youngs Gegenspieler in der Basie-Band: Evans habe wie Hawkins einen vollen Ton gehabt. Manche Leute hätten damals zu Young gesagt, sein leichter Ton sei nicht gut, er solle ihn ändern, und dadurch habe es Streit gegeben. Diese Leute hätten nicht bedacht, dass der Körper eines jeden Individuums anders gebaut ist und ein Musiker deshalb so spielt, wie er nun einmal spielt. Die Sängerin Billie Holiday erklärte: „Herschel hatte natürlich einen vollen, herrlichen Ton. Lester hatte einen kleineren Ton, aber eine Menge Ideen. […] Ich war wild auf sein Tenorspiel, machte keine Platte, wo er nicht mit drauf war. Er spielte Musik, wie ich sie gerne mochte, versuchte nicht, die Sängerin an die Wand zu drücken.“2)

Youngs und Hawkins Spielweisen unterschieden sich nicht nur im Saxofon-Sound, sondern auch in der Art der Gestaltung eines Solos: Hawkins entfernte sich nach dem Vortrag der Melodie des Stücks rasch von ihr und baute sein Solo fast völlig auf dem harmonischen Gerüst des Stücks auf. Young hingegen war viel mehr Melodiker3), folgte also mehr der Logik seiner melodischen Linien. Dabei vereinfachte er das harmonische Material eines Stücks, indem er eine „einzelne harmonische Zone“ besetzte oder eine Art „harmonischen Stillstand“ schuf – ganz im Gegensatz zur harmonischen Anreicherung durch Substitutions-Akkorde, wie es Hawkins liebte.4) Hawkins setzte vor allem nach seiner Rückkehr aus Europa im Jahr 1939 verfeinerte harmonische Ideen ein und erreichte eine „geschickte Balance zwischen der vertikalen Dimension der Harmonie und der horizontalen Logik der melodischen Linie“.5) Auch mit der Geschwindigkeit seiner Gedanken und ihrer Ausführung sowie seinem starken, leidenschaftlichen Ton stach er viele Rivalen aus.6) Während in seinen Improvisationen Dissonanzen großteils bewusst gewählt waren, entstanden sie bei Young auf andere Weise: Seine melodischen Linien passten (vor allem bei den von ihm oft verwendeten formelhaften Teilen) nicht immer exakt zu den Akkorden des Songs, sodass seine Linien im Verhältnis zur Begleitung vorübergehend Dissonanzen ergaben. Diese störten aufgrund der Logik seiner Linien aber nicht, sondern bildeten im Gegenteil ein zusätzliches, interessantes Moment. In rhythmischer Hinsicht ergab seine Loslösung vom Akkordgerüst unwillkürliche, bereichernde Spannungen zur Rhythmusgruppe und er erzeugte mithilfe seiner charakteristischen Formeln interessante Kreuzrhythmen. Seine rhythmische Vielfalt war der von Hawkins deutlich überlegen.7)

Beide Musiker übten einen starken Einfluss auf nachfolgende Tenor-Saxofonisten aus, wobei ihre jeweiligen Stärken in vielfältiger Weise verbunden wurden. So erzählte der im Jahr 1923 geborene Tenor-Saxofonist Von Freeman: „Ich liebte Prez, aber er hatte nicht diese Kraft. Er hatte einen relativ sanften, wenn auch schönen Ton. Und Coleman Hawkins hatte all diese Kraft. Mann, der konnte blasen. Man konnte ihn um den Häuserblock herum hören, aber er hatte nicht diese gleitende Sache von Prez. Als ich jedoch Dave Young hörte: Der hatte die Kraft und den gleitenden Sound, wie Lester, und das war es, was ich hinzukriegen versuchte.“8) Der ebenfalls 1923 geborene Tenors-Saxofonist Sam Rivers sagte, er habe Coleman Hawkins’ harmonischen Zugang gemocht, doch Lester Young sei wirklich sein Mann gewesen, weil er so melodisch war. Young habe auch die Akkordwechsel gespielt, aber auf andere Weise, denn es seien nicht wirklich die Akkordwechsel gewesen. Young habe die Akkordwechsel gespielt und doch nicht wirklich. Er habe einfach über die Akkordwechsel hinweggespielt oder so irgendwie. Es sei eine ganz andere Herangehensweise.9)

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. QUELLE: von Max Jones geführtes Interview mit Mary Lou Williams, Mary Lou Williams – A Life Story, Zeitschrift Melody Maker, April-Juni 1954, Internet-Adresse: http://www.ratical.org/MaryLouWilliams/MMiview1954.html, eigene Übersetzung
  2. QUELLE der Aussagen von Jo Jones und Billy Holliday: Nat Shapiro/Nat Hentoff, Jazz erzählt, 1962, S. 192-194
  3. in George Russells Worten ein „Horizontal“-Denker (QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 306)
  4. QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 306, mit Bezug auf „zahlreiche Kommentatoren, einschließlich [George] Russell, Gunther Schuller und Scott DeVeaux“ – Thomas Brothers: Lester Young (geboren 1909) sei bis zu seinem zehnten Lebensjahr in Algiers, am anderen Flussufer gegenüber von New Orleans, aufgewachsen, wo er es wie Louis Armstrong genoss, ständig Straßenmusik ausgesetzt zu sein. Die Blues-Musik, die er internalisierte, habe sich in seiner frühen professionellen Zeit im Südwesten und Mittleren Westen weiterentwickelt. Young habe sich hartnäckig der musikalischen Notation widersetzt und eine zwanglose Herangehensweise an die harmonische Grundlage kultiviert, eine Technik, die den Sinn für ein bluesiges Loslösen in seinen Improvisationen verstärkt habe. Coleman Hawkins (geboren 1904) habe als Kind eine „klassische“ Ausbildung auf dem Klavier und dem Cello erhalten, was ihm eine gute Position verschafft habe, um später mithilfe harmonischer Komplexität in neue improvisatorische Richtungen zu gehen. Er sei hinsichtlich der Harmonik alles andere als leger gewesen, habe jedoch nicht die melodische Leichtigkeit gehabt, die in praktisch allem hervortritt, was Young jemals spielte. (QUELLE: Thomas Brothers, Louis Armstrong‘s New Orleans, 2007/2006, S. 68f.) – Mehr zu Hawkins früher Entwicklung im Artikel Dschungelmusik: Link
  5. Aussage von Scott DeVeaux bezogen auf schnellere Stücke, die Hawkins nach seiner Aufnahme von Body and Soul spielte. (QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 305, eigene Übersetzung)
  6. QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 303-305
  7. QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 307f.
  8. QUELLE: Howard Reich, Von Freeman, Chicago jazz legend, dead at 88, 13. August 2012, Internetseite der Zeitung Chicago Tribune, Internet-Adresse: http://www.chicagotribune.com/entertainment/music/chi-von-freeman-dies-chicago-jazz-music-20120813,0,4655061,full.column, eigene Übersetzung
  9. QUELLE: von Ted Panken geführtes Interview mit Sam Rivers für den Radiosender WKCR, 25. September 1997, in: Ted Panken, Sam Rivers (1923-2011) r.i.p., 27. Dezember 2011, Internetseite von Ted Panken, Internet-Adresse: http://tedpanken.wordpress.com/2011/12/27/sam-rivers-1923-2011-r-i-p-a-downbeat-article-from-1999-and-interviews/

 

 

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