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Im Jahr 2001 erschien in der New York Times ein Artikel1) des britischen Jazz-Kritikers Stuart Nicholson, in dem er behauptete, eine kleine Gruppe europäischer Musiker, vor allem aus Frankreich und Skandinavien, habe im Jazz die „kreative Initiative“ übernommen und gehe ihren eigenen Weg. Diese Musiker würden das „befreiende Potential des Jazz als Tanzmusik“ aufgreifen und mithilfe von Elementen aus den europäischen House‑, Techno‑, Drum-and-Bass- und Jungle-Szenen dem Jazz seine vor langer Zeit verlorene Verbindung zur Popkultur zurückgeben. Jazz und Rap hätten sich in amerikanischen Versuchen als miteinander unvereinbar erwiesen. Drum-and-Bass sei hingegen nicht zu weit von den antreibenden Rhythmen des Jazz entfernt und könne leicht an die Jazz-Improvisation angepasst werden. Sowohl in Amerika als auch Europa hätten „Puristen“ die Frage aufgeworfen, ob „das Jazz ist“, doch sei diese Frage schon immer bei neuen Experimenten gestellt worden. Der neue europäische Jazz sei nicht das, was Jazz war, sondern eine Vision, was er sein kann. Nicholson nannte folgende Alben als Beispiele für diesen neuen Jazz:

Das Auftauchen des neuen europäischen Jazz werfe die Frage auf, ob Amerika angesichts der europäischen Konkurrenz seine Stellung im Jazz halten wird können, ohne sich noch weiter in einer Hohe-Kunst-Marginalität zu verlieren. Nicholson beendete seinen Artikel mit folgender Aussage des schwedischen Pianisten Esbjörn Svenssons: „Europa ist dabei, der neue Platz für den Jazz zu werden. Wir sind bereit. Wir mögen es, anders zu klingen.“

Nicholsons Darstellung ist in mehrfacher Hinsicht unzutreffend: Jazz-Improvisationen haben häufig einen sprachähnlichen Fluss und damit durchaus eine Gemeinsamkeit mit Rap, der allerdings in seinen musikalischen Möglichkeiten ziemlich begrenzt ist und in einem rauen Gegensatz zur hoch entwickelten Improvisationskunst des Jazz steht. Die Problematik von so genanntem Drum-and-Bass im Jazz-Kontext ist aber noch wesentlich gravierender, denn sie betrifft das gesamte Fundament der Musik, nicht bloß ein zusätzliches Element wie Rap, der einem Gesangsteil ähnelt. Eine anspruchsvolle, flexible, variierende rhythmische Basis und eine laufende Interaktion zwischen Rhythmusgruppe und Solisten sind im Jazz essentiell. Dem widersprechen die starren, programmierten rhythmischen Muster der elektronischen Tanzmusik, die für das wippende und hüpfende Publikum noch dazu ein simples Pochen betonen. Der Reiz elektronisch produzierter Sounds besteht in ihren ungewöhnlichen atmosphärischen Klangfarben. Doch kommt und geht der Effekt solcher neuartiger Klänge mit den Modewellen3) und üppige Klangfarben sind zwar ein besonders leicht erfassbarer, aber auch oberflächlicher Aspekt der Musik. Sie verdecken leicht, worauf es im Jazz in erster Linie ankommt: die rhythmische, melodische, harmonische Gestaltung. Außerdem fehlt den elektronischen Klängen die Möglichkeit, sie im spontanen Spiel auf vielfältige, fein nuancierte Weise auszuformen und ihnen damit einen persönlichen Ausdruck zu verleihen, wie es im Jazz besonders auf Blasinstrumenten, aber auch auf anderen Instrumenten erfolgt. Programmierte Sounds, Loops und Beats sind noch wesentlich unflexibler als die „elektrischen“ Klänge der Gitarren und Keyboards aus den 1970er Jahren, die sich im Jazz bereits nur begrenzt bewährt haben.
Malik Mezzadri, der bloß bedingt als Europäer zu betrachten ist, entwickelte in seinem Flötenspiel eine stilistische Eigenständigkeit.
Mehr dazu: Magic Malik

Ansonsten sind die Jazz-Anteile der von Nicholson gepriesenen Musik weitgehend Adaptionen von Spielweisen, die in Amerika entwickelt wurden. Der „weiße“ amerikanische Pianist George Colligan wies darauf hin, dass das, was Musiker wie Wesseltoft zum Einsatz von Elektronik, Turntables, Hip-Hop- und Techno-Beats spielen, aus der Jazz-Rock-Fusion stammt, mit der amerikanische Musiker bereits in den 1970er Jahren erfolgreich waren. Damalige Musiker wie Herbie Hancock, Chick Corea, Stanely Clarke, Lenny White, Wayne Shorter und Joe Zawinul hätten ernsthafte Wurzeln in der Jazz-Tradition und damit ein Fundament gehabt, das ihr musikalisches Konzept stark machte. Hancock habe mit den Besten swingen und über Akkordfolgen spielen können. Esborn Svennson klinge wie der „weiße“ amerikanische Pianist Keith Jarrett in den 1970er Jahren, also wie vor 30 Jahren. Zu Svenssons Aussage, Europa sei dabei, der neue Platz für den Jazz zu werden, er sei bereit und würde es mögen, anders zu klingen, schrieb Colligan: Er klinge tatsächlich nicht wie Oscar Peterson oder Earl „Fatha" Hines, aber nicht wirklich innovativ und es sei komisch, dass Musiker, die so hochgejubelt werden, immer so überheblich wirken, wenn sie in Artikeln zitiert werden.4)

Das Esborn Svennson Trio mischte Jazz-Elemente mit Pop und Klassik, bezeichnete sich als „Rockband, die Jazz spielt“5) und gelangte mehrfach in die Pop-Charts. Im Jahr 2003 spielte das Trio in einem Konzert6) unter anderem Thelonious Monks Komposition ’Round Midnight in extrem verkitschter Form mit Geigenschmalz.7) – Die Musik von Nils Petter Molvaer besteht aus endlosen, eintönigen atmosphärischen Elektronik-Klangteppichen, zu denen er auf der Trompete unverkennbare Nachahmungen der Sounds von Miles Davis und Don Cherry produzierte, ohne auch nur einigermaßen zusammenhängende Soli zu bilden. – Das von Nicholson gerühmte Album des Gitarristen Eivind Aarset zeigt viele Anleihen aus Miles Davis‘ Fusion-Phase der Jahre 1969 bis 1975. Es geht insofern über Davis‘ damalige, bereits umstrittene Musik noch weit hinaus, als es kaum mehr nennenswerte Jazz-Elemente enthält und überwiegend aus Rockmusik besteht. Dass Nicholson es für eines der besten „Post-Miles“ Alben hielt, offenbart Nicholsons Affinität zum Rock und einen gravierenden Mangel an Verständnis für Jazz-Qualität. Außerdem scheint ihm, wie auch den meisten Vertretern des von ihm beworbenen europäischen Pop-Jazz, ein Gespür für starken Groove und echte Funkiness zu fehlen. Denn die mit elektronischen Mitteln „aufgefetteten“, rockenden Beats der Europäer sind von der rhythmischen Kraft eines James Brown oder Maceo Parker8) meilenweit weit entfernt.

Die von Nicholson verheißene Zukunft des Jazz in Form der pop-orientierten Varianten Europas verblasste rasch. Bereits als Nicholson im Jahr 2005 seine Thesen in einem Buch9) ausbreitete, hatte Wesseltoft das Verbinden von Elektronik-Pop und Jazz aufgegeben und eingestanden, dass „sich die Elektro-Jazz-Bewegung mittlerweile ein wenig totgelaufen hat“. Wesseltoft meinte, er müsse sich nun „erneuern“. Später erklärte er zu einem im Jahr 2007 erschienen Album: „Ich wollte die Schönheit des Pianos herausstellen. Vor ein paar Jahren habe ich mir einen Steinway-Flügel gekauft, der einfach so unfassbar schön und warm und gut klingt.“10) – Eine solche, aus der „klassischen“ Musik stammende Beweihräucherung des reinen, gediegenen Klangs kultivierte Keith Jarrett schon seit Langem. Neu war allerdings, dass Wesseltoft mit seinem teuren Flügel eine „Ambient“ und „Chill-Out“ genannte Musikart produzierte11), die größtenteils einschläfernd wirkt. 2017 interpretierte er im Schneckentempo auf seinem Flügel in einer Kirche alte Popmusik-Hits aus den 1960er und 1970er Jahren sowie einige klassische Stücke und diese Musik wurde als Album mit dem Titel Everybody Loves Angels und der Abbildung eines barocken Engels veröffentlicht. – Der Amerikaner Howard Mandel, der die internationale Jazz-Kritiker-Vereinigung Jazz Journalists Association leitete, sagte schon lange davor (2009): „Mag sein“, dass Nicholson mit seiner Position „einigen europäischen Musikern Arbeit bei europäischen Jazzfestivals beschaffen konnte – doch auch diese Interaktion war nicht wirklich nachhaltig. Stuart Nicholsons Buch war eine einzige Blase, sie musste nach kurzer Zeit platzen. Heute redet keiner mehr davon.“12)

Dass es Musikern in Europa gelang, einem größeren jungen Publikum ein wenig Jazz-Elemente näher zu bringen, mag man positiv finden.13) Doch verwechselte Nicholson kommerziellen Erfolg mit kreativer musikalischer Weiterentwicklung und diente damit weder dem Jazz noch dem Verständnis Jazz-Interessierter.

Der deutsche Jazz-Kritiker Christian Broecking erwähnte ein Album mit dem Titel Great German Songbook (2005), in dem deutsche Musiker14) alte Schlager wie Kauf dir einen bunten Luftballon und Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen verjazzten. Nicholson habe dieses Album als Beleg dafür betrachtet, wie man die „große Tradition des deutschen Songs als eigene kulturelle Identität“ im Jazz wiederfinde. Die damals beteiligten Musiker wenden sich jedoch mittlerweile „peinlich berührt ab, wenn man sie auf jene Heldentat anspricht“.15)

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. QUELLE: Stuart Nicholson, Europeans Cut In With a New Jazz Sound And Beat, 3. Juni 2001, Zeitung The New York Times, Internet-Adresse: http://www.nytimes.com/2001/06/03/arts/music-europeans-cut-in-with-a-new-jazz-sound-and-beat.html?pagewanted=1, eigene Übersetzungen
  2. ständig wiederholte musikalische Figur
  3. Zum Beispiel erschien im Jahr 1972 das auf einem Synthesizer gespielte Stück Popcorn der Band Hot Butter und wurde mit seinen damals in der Popmusik neuartigen elektronischen Klängen zu einem weit verbreiteten Hit. Kaum ein anderer damaliger Hit klang in kurzer Zeit so abgegriffen wie dieses scheußliche Popcorn.
  4. QUELLE: George Colligan, Blast from the Past: Stuart Nicholson's Article and My Insane Response..., 17. Oktober 2010, Internet-Adresse: http://jazztruth.blogspot.co.at/2010/10/blast-from-past-stuart-nicholsons.html
  5. QUELLE: Hans-Jürgen Schaal, Esbjörn Svenssons Erben. Klaviertrios überwinden den Jazz, 2008, Schaals Internetseite, Internet-Adresse: http://www.hjs-jazz.de/?p=00203
  6. auf dem Jazz-Festival Jazz Balitica in Schleswig-Holstein im Jahr 2007
  7. Thelonious Monks Ballade ’Round Midnight gilt als eine der schönsten im Jazz und ist, von Monk selbst gespielt, gerade durch sein sperriges, rhythmisches Spiel, das jeden Anflug von Kitsch ausschließt, so überzeugend.
  8. zum Beispiel im Stück Basic Funk: 101 aus Maceo Parkers Album School´s In! (2004)
  9. Stuart Nicholson, Is Jazz dead? (Or has it moved to a new address), 2005
  10. QUELLE: Biographie Wesseltofts auf der Internetseite LAUT.DE in der 2017 bestandenen Fassung, Internet-Adresse: http://www.laut.de/wortlaut/artists/w/wesseltoft_bugge/biographie/index.htm
  11. QUELLE: Kai Kopp, Anspruchsvoller und anregender Chill Out, Besprechung des 2007 erschienen Albums IM von Bugge Wesseltoft, Internet-Adresse: http://www.laut.de/Bugge-Wesseltoft/Alben/IM-23567
  12. QUELLE: Interview mit Mandel in der Zeitschrift JazzThing, Nummer 81, November 2009, S. 95
  13. Ob dadurch ein ernsthafteres Interesse am Jazz angestoßen wird, ist fraglich, zumal Leute wie Nicholson ihnen vermitteln, dass sie ohnehin bereits das Beste und Innovativste im Jazz hören. Aussagen von Fans des Esbjorn Svensson Trios im Internet wiesen in diese Richtung.
  14. die Band Young Friends, bestehend aus Trompeter Axel Schlosser, Posaunist Johannes Lauer, Saxofonist Florian Trübsbach, Pianist Michael Wollny, Bassistin Eva Kruse, Schlagzeuger Eric Schaefer
  15. QUELLE: Christian Broecking in: Wolfram Knauer, Jazz. Schule. Medien, Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Band 12, 2012, S. 215

 

 

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