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Schattenkultur


Die spezielle Tanzmusik von New Orleans, die Musiker wie der junge Louis Armstrong in den 1910er Jahren in dieser Stadt an der Südküste der USA spielten, wurde von Afro-Amerikanern entwickelt. Einige „weiße“ Musiker präsentierten in ihrem Stadtteil eine Abwandlung dieser Musik und in ihrer Szene war der Bandleader „Papa Jack“ Laine eine zentrale Figur. Aus seinen Bands gingen unter anderem Tom Brown und Nick LaRocca hervor, die mit ihren Dixieland-Jazz-Bands in den Jahren 1915 und 1916 nach Chicago und New York kamen. Beide erhielten dort Unterstützung von Entertainern, die mit schwarz angemaltem Gesicht (Blackface) Afro-Amerikaner karikierten.1) Nachdem LaRoccas Original Dixieland Jazz Band in einem New Yorker Nobelrestaurant, das nur für „Weiße“ zugänglich war, beim Publikum ankam, wurden ab 1917 mehrere Schallplatten von ihrer Musik aufgenommen, die ihr großen, sogar internationalen Erfolg bescherten. Für die im Wesentlichen „weißen“ Plattenkäufer war diese spektakuläre, neue Musik Jazz schlechthin2) und bis heute werden diese Schallplatten als die ersten Jazz-Aufnahmen angesehen. Der „weiße“ Musiker Mezz Mezzrow aus Chicago schrieb später über diese Band: Sie habe schnell und energiegeladen gespielt, mit einer Reihe neuartiger Effekte, die das Publikum ausflippen ließ, mit schellenden Kuhglocken, hupenden Automobil-Hörnern, Bauernhof-Imitationen, Geräuschen, die nach allem anderen als nach Musik klangen. Das Publikum habe nicht gewusst, dass das kein echter Jazz war. Das Klarinetten- und Trompetenspiel der Band habe allerdings auch ihn als Kind beeindruckt.3) Der britische Autor Alyn Shipton wies in seiner eingehenden und aktuellen Darstellung der Jazz-Geschichte darauf hin, dass die frühen „weißen“ Dixieland-Bands bei Weitem nicht das künstlerische Niveau der ersten afro-amerikanischen Aufnahmen hatten.4) Das auffälligste Merkmal ihrer Musik sei der laute, klamaukhafte, komödiantische Charakter gewesen. Sie sei in vieler Hinsicht eine genauso platte Darstellung der afro-amerikanischen Musik aus New Orleans gewesen, wie es „weiße“ Sänger mit schwarz angemaltem Gesicht für das waren, was hinter der alten Minstrel-Show-Tradition steckte. Diese Dreistigkeit sei eine besonders spektakuläre Komponente der Musik der Original Dixieland Jazz Band gewesen.5) – Der Hintergrund der Minstrel-Shows, den Shipton offenbar meinte, war die von der „weißen“ Mehrheitsgesellschaft kaum wahrgenommene Musik- und Tanzkultur der ehemaligen Sklaven und ihrer Nachfahren. Sie übte seit jeher eine Anziehung auf manche „Weiße“ aus, die mit ihr in Berührung gekommen waren, und wurde in so genannten Minstrel-Shows nachgeahmt oder zumindest nach freier Fantasie nachgebildet. Zugleich sorgte in diesen Shows derbe, entwürdigende Parodie für eine Wahrung der rassistischen Abwertung und für ein Verschleiern der grausamen Unterdrückung.
Mehr dazu: Blackface

Die frühen „weißen“ Dixieland-Bands ahmten, wie Shipton und andere6) darlegten, weitgehend afro-amerikanische Musik auf ihre eigene Weise nach, doch bestritten LaRocca, Brown und bereits Laine einhellig jede Verbindung zu afro-amerikanischen Quellen und behaupteten beharrlich, ihre Musik sei ihre eigene Erfindung, Afro-Amerikaner hätten zu ihr absolut nichts beigetragen und würden sie nur schlecht imitieren. Mit diesen abwegigen Behauptungen offenbarten LaRocca, Brown und Laine, dass ihre Beziehung zur afro-amerikanischen Subkultur von derselben Art rassistischer Verachtung geprägt war, die auch den früheren Minstrel-Shows zugrunde lag. Ein bis heute immer wieder ins Treffen geführtes Argument für LaRoccas Behauptungen ist eine Aussage in Louis Armstrongs erster, 1936 erschienener Autobiographie, die LaRocca einen besonderen Stellenwert in der Frühgeschichte des Jazz zusprach, aber offensichtlich falsch ist und wahrscheinlich nicht von Armstrong selbst stammt.
Mehr dazu: Dixieland

Louis Armstrong kam im Jahr 1922 als 21-Jähriger nach Chicago, da ihn sein Mentor Joe „King“ Oliver, der bereits 1918 dorthin gezogen war, in seiner Tanzmusikband haben wollte. Oliver gehörte zu einer Clique von New Orleanser Musikern, die in der South-Side, dem afro-amerikanischen Viertel von Chicago, Auftrittsmöglichkeiten fand, da dort viele Migranten aus dem Süden lebten, die Blues-getränkte Musik aus ihrer Heimat schätzten. Olivers Musik war das Musterbeispiel für jene Spielweisen, die als charakteristisch für den Jazz aus New Orleans gelten. Armstrong veränderte diese Musik dann in eigenen Bands, indem anstelle des typischen ineinander verwobenen Spiels der Blasinstrumente zunehmend seine großartig gestalteten Soli in den Vordergrund traten. Diese ersten Höhepunkte des Jazz, die den Ausgangspunkt kunstvollen Solospiels auf Blasinstrumenten bildeten, wurden für eine afro-amerikanische Hörerschaft hervorgebracht. Aufnahmen davon erschienen auf Schallplatten, die als Produkte für Afro-Amerikaner gekennzeichnet waren und mit denen „weiße“ Musikkonsumenten daher aufgrund der allgemeinen Geringschätzung für afro-amerikanische Kultur in der Regel nicht in Berührung kamen. Als Armstrong um 1930 dann zum Entertainer eines „weißen“ Massenpublikums aufgebaut wurde, ging die Zeit seiner größten musikalischen Meisterschaft und Kreativität allmählich zu Ende. Er wurde berühmt, jedoch in einer vom Showgeschäft auferlegten Minstrel-Rolle, die viele Afro-Amerikaner zunehmend als beschämend empfanden. Um 1940 entdeckten Jazz-Kenner seine Meisterwerke aus den 1920er Jahren wieder und auf ihr Betreiben wurden die alten, bis heute beeindruckenden Aufnahmen neuerlich veröffentlicht7), doch blieben sie Spezialitäten für Insider.
Mehr dazu: Ghetto-Musik

Was in den 1920er Jahren von den meisten „weißen“ Amerikanern als Jazz betrachtet wurde, klang nicht nur anders als die Musik von Joe Oliver und Louis Armstrong, sondern hatte auch eine grundsätzlich andere emotionale Wirkung und Bedeutung8): Anfang der 1920er Jahre war es noch die Musik der Original Dixieland Jazz Band und ihrer Nachahmer.9) Bald wurde ihr Stil mit Schlagergesang und der Unterhaltungsmusik von Revuen zu einer „Happy“-Musik verbunden, die sehr populär wurde. Der erfolgreichste Vertreter dieser Sparte war Ted Lewis, der mit einem betont heiteren, komödiantischen, dünnen (Sprech-)Gesang und einer Dixieland-artigen Begleitung als einer der Top-Jazz-Musiker galt. Auch Broadway-Sängerinnen und -Sänger wie Sophie Tucker und Eddie Cantor setzten solche Musik ein.10) Tucker wurde damals als „Königin des Jazz“ bezeichnet, Irving Berlin (ein Komponist von Songs und Broadway-Shows) als „Mister Jazz persönlich“ und der Broadway-Sänger Al Jolson war auf Grund seiner Rolle in einem Film11), der keinen Jazz im heutigen Sinn enthält, „der Jazz-Sänger“.12) Eine ebenso populäre, „weiße“ Stilrichtung wurde vom Orchesterleiter Paul Whiteman angeführt, der Elemente der Dixieland-Musik und der klassischen europäischen Musik verband und so „Jazz“ in den Augen vieler respektabel machte. Ein entscheidender Durchbruch gelang Whiteman im Jahr 1924, als er mit seinem Orchester die Rhapsody in Blue des Broadway-Komponisten George Gershwin in einem New Yorker Konzertsaal für klassische Musik uraufführte.13) So genannter „sinfonischer“ „Sweet“-Jazz im Stil Whitemans wurde in Medien immer wieder als kultiviertere, wertvollere Form hervorgehoben, doch bevorzugten junge Leute eher die lustigeren, weniger gediegenen Stile.14) In der breiten Öffentlichkeit war Jazz zwischen den Berichten über Whitemans Konzert des Jahres 1924 und der 1935 beginnenden Popularität von Benny Goodman nur selten ein Thema.15)

Manche brachten „Jazz“ bereits früh mit der Vorstellung von wilder, primitiver Musik aus Afrika, die von Afro-Amerikanern im Untergrund weitergepflegt wurde, in Verbindung.16) Inwieweit den damaligen Hörern sein afro-amerikanischer Ursprung bekannt war, ist jedoch fraglich und nicht mehr feststellbar.17) Die in den 1920er Jahren erfolgreichen „weißen“ Musiker „ignorierten oder schmälerten“ die afro-amerikanischen Grundlagen des Jazz und die „selbsternannten Jazz-Musiker“ des „Sweet“-Jazz erwähnten fast nie Afro-Amerikaner, wenn sie über die Ursprünge des Jazz sprachen. Whiteman nannte in seinem 1926 erschienen Buch Jazz an keiner einzigen Stelle Afro-Amerikaner und deren Musik.18) Auch wurde im Zusammenhang mit dem „sinfonischen“ Stil um 1927 häufig eine Überlegenheit „weißer“ Jazz-Musiker behauptet.19)

Der bedeutendste Solist im Whiteman-Orchester am Ende der 1920er Jahre war der Kornettist Bix Beiderbecke. Er gehörte zu einer Reihe junger „weißer“ Musiker, die vom Spiel afro-amerikanischer Jazz-Musiker begeistert waren, es eingehend studierten und nachahmten und aufgrund ihres andersartigen kulturellen Hintergrundes zum Teil deutliche Abwandlungen hervorbrachten. Einige Musiker aus diesem Umfeld konnten sich später in den populären Richtungen des „Sweet“- und „Swing“-Jazz der 1930er Jahre an vorderster Front positionieren. Beiderbecke starb hingegen bereits 1931 und wurde zu einer bis in die Gegenwart nachwirkenden Art Galionsfigur „weißer“ Ästhetik und „weißen“ Selbstbewusstseins im Jazz. Armstrongs Äußerungen zu diesen Musikern werden häufig als Bestärkung dieser Sichtweisen verstanden, doch war der Kontakt zwischen den „weißen“ und den afro-amerikanischen Musikern durch Abhängigkeitsverhältnisse bedingt, die auf die allgegenwärtige „Rassenproblematik“ zurückzuführen sind.
Mehr dazu: Umarmung

Der afro-amerikanische Orchesterleiter Fletcher Henderson konnte Mitte der 1920er Jahre durch eine weitgehende Annäherung an die führenden „weißen“ Gesellschaftstanzorchester, in deren Geschäftsbereich Fuß fassen. In dieser Tanzmusik war damals der fallweise Einsatz „heißer“ Klänge in der Art des New-Orleans-Jazz modern und Henderson hatte als Afro-Amerikaner den Vorteil, entsprechende erfahrene afro-amerikanische Solisten einsetzen zu können. Es gelang dann aber besonders Duke Ellington, der sich zunächst an Hendersons Vorbild orientierte, die expressiven Klänge und Improvisationsweisen des Jazz im Rahmen von Kompositionen und Arrangements für sein Orchester kunstvoll zu nutzen. Seine Musik wurde von den überwiegend „weißen“ Hörern allerdings als wild, exotisch und primitiv betrachtet und trotz seiner Bemühungen, als ernsthafter Komponist betrachtet zu werden, blieb er auch in den 1930er Jahren auf einen Rang hinter den weit weniger kreativen „weißen“ Stars zurückgesetzt. Bei aller späteren Ehrung erhielt er als herausragender Komponist des Jazz doch zu seiner Lebenszeit nie eine Anerkennung auf der Ebene „ernster“ Musik.
Mehr dazu: Dschungelmusik

Miles Davis wies darauf hin, dass neben Duke Ellington, Count Basie und Fletcher Henderson auch Charlie Parker nie das erhielt, was ihm gebührt hätte. Nur einzelne Jazz-Kritiker20) hätten Parker und die anderen Musiker der so genannten Bebop-Bewegung anerkannt. Für die meisten der fast ausschließlich „weißen“ Kritiker sei der „weiße“ Saxofonist und Bigband-Leiter Jimmy Dorsey ihr Mann gewesen. Außerhalb einiger Orte habe kaum jemand Parker gehört. Louis Armstrong habe schließlich seinen Teil bekommen, allerdings erst, nachdem er wie ein Idiot zu grinsen begonnen habe.21)Afro-amerikanischer Jazz war in der „weißen“ Mehrheitsgesellschaft von jener Verschleierung oder Unsichtbarkeit22) betroffen, die allgemein das wahre Leben der afro-amerikanischen Minderheit negierte und ein Produkt des Rassismus war. Musikalische Aussagen wurden missdeutet und kulturelle Leistungen verkannt.

 

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  1. Tom Brown profitierte 1915 in Chicago von Auftritten des Vaudeville-Entertainers Charlie Mack und LaRocca erhielt 1916 auf Vermittlung des Varieté-Sängers und Entertainers Al Jolson (ein Broadway-Star), der „ebenfalls auf die rassistische Unterhaltungsmaskerade des Blackface spezialisiert“ war, ein Engagement in New York. (QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 74 und 76)
  2. QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 78
  3. QUELLE: Mezz Mezzrow, Really the Blues, 1990/1946, S. 150
  4. Alyn Shipton: Zum Beispiel zeige die Piano-Rolle von James P. Johnsons Steeplechase Rag aus Mai 1917 eine vollendetere Komposition mit einer komplexeren Struktur und einem dramatischeren Vortrag als alles, was die Original Dixieland Jazz Band in den nächsten fünf Jahren zu Wege brachte. Im Fahrwasser der Original Dixieland Jazz Band hätten sich zahlreiche kleine Bands etabliert, die ähnliche Musik spielten und sich in ähnlicher Weise als lustige, extrovertierte Unterhalter gebärdeten. Die Musik all dieser Bands habe jedoch nicht die emotionale Tiefe von Bessie Smith, die nostalgische Nuance von Jelly Roll Mortons Klavierspiel, die draufgängerische Kraft von Sidney Bechet oder die aufrichtige Freude von Louis Armstrong gehabt. Es habe bis zur Explosion des afro-amerikanischen Jazz auf Schallplatten im Jahre 1923 gedauert, bis solche Dinge für die Öffentlichkeit zugänglich zu werden begannen. (QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 77f.)
  5. QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 75
  6. zum Beispiel 1.) Thomas Brothers, Louis Armstrong‘s New Orleans, 2007/2006, Kindle-Ausgabe, S. 245f.; 2.) Reimer von Essen, Aufführungspraxis historischer Jazzstile, in: Wolfgang Sandner (Hrsg.), Jazz, 2005, S. 153
  7. QUELLEN: John Gennari, Blowin‘ Hot and Cool, 2006, S. 76f.; Wolfram Knauer, Louis Armstrong, 2010, S. 140
  8. William Howland Kenney: Für urbane Afro-Amerikaner habe Jazz eine andere Realität dargestellt als jene, die die „weißen“ Zeitgenossen erlebten. (QUELLE: William Howland Kenney, Chicago Jazz. A Cultural History 1904-1930, 1993, S. 45)
  9. Burton W. Peretti: Der Erfolg der Original Dixieland Jazz Band im Jahr 1917 habe viele zur Nachahmung angeregt und diese Bands hätten für die nächsten fünf Jahre in der Öffentlichkeit Jazz definiert. (QUELLE: Burton W. Peretti, Jazz in American Culture, 1997, S. 32) – Thomas Brothers: Einige Jahre lang müsse es diese Musik gewesen sein, was die meisten Leute in den USA unter Jazz verstanden (QUELLE: Thomas Brothers, Louis Armstrong. Master of Modernism, 2014, Kindle-Ausgabe, S. 136)
  10. Burton W. Peretti: Der Klarinettist Ted Lewis sei mit seiner Band 1919 auf der Szene aufgetaucht, habe mit instrumentalen Schleiftönen, Jauchzern und synkopierten Rhythmen in halsbrecherischem Tempo das Publikum verrückt gemacht und sei damit zum bekanntesten Jazz-Musiker geworden. Nachtklub-Sänger(innen) wie Sophie Tucker und Eddie Cantor hätten diesen Stil des „Happy“- oder „Nut“-[Wahnsinns]-Jazz für ihre Begleitung eingesetzt und wenig vornehme „Barnyard-[Scheunenhof]-Tänze“ seien in New York und darüber hinaus groß in Mode gewesen. Broadway- und Tin-Pan-Alley-Songschreiber hätten diesen neuesten Musikstil aus den Südstaaten popularisiert. (QUELLE: Burton W. Peretti, Jazz in American Culture, 1997, S. 33)
  11. The Jazz Singer, 1927
  12. Krin Gabbard: In den 1920er Jahren sei für die meisten „weißen“ Amerikaner Paul Whiteman der „König des Jazz“ gewesen, Al Jolson „der Jazz-Sänger“, Irving Berlin „Mister Jazz persönlich“ und Sophie Tucker die „Königin des Jazz“. Die Tatsache, dass die meisten heutigen Autoren an diesen „weißen“ Unterhaltern vorbeisehen und den Begriff auf ihre afro-amerikanischen und kreolischen Zeitgenossen anwenden, habe in der bemerkenswerten Aussage von Michael Rogin gemündet, dass der Film The Jazz Singer aus 1927, der Al Jolson als Blackface-Unterhalter zum Star machte, „keinen Jazz enthält“. Während die meisten „weißen“ Amerikaner in den 1920er Jahren Jazz als die Musik von Whiteman, Jolson und George Gershwin verstanden, hätten heutige Kritiker modernere Musikformen in die 1920er Jahre projiziert, um Armstrong, Oliver, Morton, Bechet, Henderson und Ellington als die wahren Jazz-Künstler zu nominieren. (QUELLE: Krin Gabbard, The word jazz, in: Mervyn Cooke/David Horn [Hrsg.], The Cambridge Companion to Jazz, 2004/2002, S.4)
  13. Thomas Brothers: Die Aufführung von George Gershwins Rhapsody in Blue durch das Paul Whiteman Orchester im Jahr 1924 sei fast dem Einfluss der ersten Schallplatten der Original Dixieland Jazz Band im Jahr 1917 gleichgekommen. (QUELLE: Thomas Brothers, Louis Armstrong. Master of Modernism, 2014, Kindle-Ausgabe, S. 136)
  14. Burton W. Peretti: Paul Whitemans elitäre Konzertsaal-Musik habe nicht die Tatsache verbergen können, dass der meiste Jazz aggressiv respektlos und oft mehr zweideutig und sinnlich als sinfonisch oder „sweet“ war. Diese Tatsache wie auch die Anziehungskraft des Jazz auf die Jugend hätten ihn zum Gegenstand der Kontroverse und zu einem Symbol für ein Jahrzehnt der kulturellen Debatte gemacht. (QUELLE: Burton W. Peretti, Jazz in American Culture, 1997, S. 36)
  15. Marschall Stearns: „In gewisser Beziehung hörte das allgemeine Publikum nie mehr etwas über den Jazz, nachdem der Wirbel, den das Paul-Whiteman-Konzert 1924 verursacht hatte, verrauscht war. Dagegen hörte jedermann 1935 etwas von der Swingmusik, wie Benny Goodman und andere sie spielten. Trotzdem gelangte der Jazz während dieser Jahre in die entferntesten Ecken des amerikanischen Lebens.“ (QUELLE: Marschall W. Stearns, Die Story vom Jazz, 1959/1956, S. 164)
  16. Bereits ungefähr fünf Monate nach Veröffentlichung der ersten Schallplatte der Original Dixieland Jazz Band erschien in der Ausgabe der auflagenstarken Wochenzeitschrift The Literary Digest vom 25. August 1917 ein Artikel mit dem Titel The Appeal of Primitive Jazz, in dem unter Berufung auf Forscher Jazz auf afrikanische Wurzeln mit Retentionen in Haiti, Kuba und New Orleans zurückgeführt wurde. (QUELLEN: Dr. Karl Koenig [Hrsg.], Jazz In Print, Internet-Adresse: http://basinstreet.com/wp-content/uploads/2016/09/JazzPrint.pdf; Maureen Anderson, The White Reception of Jazz in America, Zeitschrift African American Review, Jahrgang 38, Nr. 1, Frühjahr 2004, S. 135-145)
  17. Thomas Brothers: Nach den ersten Aufnahmen der Original Dixieland Jazz Band dürfte es einige Jahre lang die von dieser Band repräsentierte Musik gewesen sein, was die meisten Leute in den USA unter Jazz verstanden. Inwieweit ihnen der afro-amerikanische Ursprung bekannt war, lasse sich nicht mehr feststellen. Diese Musik sei als unzivilisiert beziehungsweise erfrischend empfunden worden. (QUELLE: Thomas Brothers, Louis Armstrong. Master of Modernism, 2014, Kindle-Ausgabe, S. 133)
  18. QUELLE: Burton W. Peretti, The Creation of Jazz: Music, Race, and Culture in Urban America, 1992, S. 189 – Peretti: Der „weiße” Posaunist George Brunis habe den Jazz auf das Barbershop-Singen zurückgeführt und behauptet, der Blues komme von jüdischen Hymnen her. Bill Challis, Whitemans Arrangeur, habe es ähnlich gesehen. (Peretti 189)
  19. Thomas Brothers: Um 1927 habe es zunehmend häufige Behauptungen von „weißer“ Überlegenheit im Jazz gegeben. So habe ein Schriftsteller (H. L. Mencken) damals behauptet, dass der beste aktuelle Jazz nicht von „Schwarzen“, sondern von Juden komponiert worden sei, und zwar meine er, am besten in jeder Hinsicht. Warum hätten „schwarze“ Komponisten gewartet, bis George Gershwin seine Rhapsody in Blue schuf und Paul Whiteman den Jazz zu einer ernsthaften Sache machte? (QUELLE: Thomas Brothers, Louis Armstrong. Master of Modernism, 2014, Kindle-Ausgabe, S. 291)
  20. wie Barry Ulanov und Leonard Feather
  21. QUELLE: Miles Davis/Quincy Troupe, Miles. The Autobiography, 1990/1989, S. 396 – Dizzy Gillespie: „Das [Plantagen-Image] konnten wir an Louis Armstrong nicht leiden, und wenn jemand zur Sprache brachte, wie Louis sich auf der Bühne verhielt, mit seinem weißen Taschentuch herumspielte und dem weißen Rassismus mitten ins Gesicht grinste, zögerte ich nie zu sagen, dass mir das nicht gefiel. Ich wollte nicht, dass die Weißen von mir Dinge erwarteten, die Louis Armstrong tat. Zum Teufel, ich hatte meine eigene Art von Tomming. Seit den Zeiten der Sklaverei hat jede Negergeneration ihre eigenen Methoden des Tommings entwickelt, um sich einer grundsätzlich ungerechten Situation anzupassen. […] Erst viel später lernte ich Louis Armstrongs Verhalten auf der Bühne verstehen. Er wollte sich durch absolut nichts, nicht einmal durch seinen Zorn über den Rassismus, seine Freude am Leben und sein großartiges Lachen vermiesen lassen. Ich kam aus einer jüngeren Generation und hatte das falsch verstanden.“ (QUELLE: Dizzy Gillespie, To Be Or Not To Bop. Memoiren, deutschsprachige Ausgabe, 1984, S. 238) Der Ausdruck Tomming meint das Spielen einer unterwürfigen Rolle – wie die der Figur Onkel Tom im Roman Onkel Toms Hütte, der in den USA heftig kritisiert wurde, weil er die Sklaven als zu unterwürfig darstellte. – Miles Davis: „Ich liebte Louis [Armstrong] als Trompeter, aber ich hasste die Grinserei, die er vor diesen schlappen Weißen abzog. Mann, ich wurde richtig wütend, wenn ich ihn so sah, denn eigentlich war Louis hip, hatte ein schwarzes Bewusstsein und war ein netter Mann. Aber die Leute kennen nur den schwarzen Grinser von der Mattscheibe.“ (QUELLE: Miles Davis, Die Autobiographie, 1993, S. 374) – Ricky Riccardi (Archivist des Louis Armstrong House Museums, Autor des Buchs What a Wonderful World: The Magic of Louis Armstrong's Later Yearst): In den 1980er Jahren habe Miles Davis in einem von Bill Boggs geführten Interview gesagt, jene, die Armstrong als Onkel Tom betrachten, würden nicht realisieren, dass er sich unter Freunden ebenso verhielt. Aber wenn man sich so vor „weißen” Leuten verhält und versucht, dass sie genießen, wie man sich fühlt (mehr habe Armstrong nicht getan), dann würden sie einen Onkel Tom nennen. (QUELLE: Ricky Riccardi, Louis Armstrong, Joe Glaser and "Satchmo at the Waldorf" - 2016 Update, 26. Jänner 2016, Internetseite The Wonderful World of Louis Armstrong, Internet-Adresse in Fußnote: http://dippermouth.blogspot.co.at/2016/01/louis-armstrong-joe-glaser-and-satchmo.html)
  22. Unsichtbarkeit war als allgemeines Charakteristikum afro-amerikanischer Existenz und Kultur zum Beispiel Thema des berühmten, 1952 erschienen Romans Invisible Man (Der unsichtbare Mann) des Afro-Amerikaners Ralph Ellison. – W.E.B. Du Bois: Als Kind habe ihm gedämmert, dass er anders war als die „weißen“ Kinder – „ihnen gleich vielleicht im Fühlen, Tun und Wünschen, aber ausgeschlossen aus ihrer Welt durch einen riesigen Schleier“. Der Afro-Amerikaner sei mit einem „Schleier und einer besonderen Gabe – dem zweiten Gesicht – in diese amerikanische Welt“ geboren, in eine Welt, die „ihm kein wahres Selbstbewusstsein zugesteht und in der er sich selbst nur durch die Offenbarung der anderen Welt erkennen kann“. „Es ist sonderbar, dieses doppelte Bewusstsein, dieses Gefühl. Sich selbst immer nur durch die Augen anderer wahrzunehmen, der eigenen Seele den Maßstab einer Welt anzulegen, die nur Spott und Mitleid für einen übrig hat. Stets fühlt man seine Zweiheit, als Amerikaner, als Schwarzer. Zwei Seelen, zwei Gedanken, zwei unversöhnte Streben, zwei sich bekämpfende Vorstellungen in einem dunklen Körper, den Ausdauer und Stärke allein vor dem Zerreißen bewahren. Die Geschichte des amerikanischen Negers ist die Geschichte dieses Kampfes – die Sehnsucht, ein selbstbewusstes Menschsein zu erlangen und das doppelte Selbst in einem besseren und wahreren Selbst zu vereinen, ohne dabei eines seiner früheren zu verlieren.“ (QUELLE: W.E.B. Du Bois, Die Seelen der Schwarzen, 2008/2003, S. 34, Originalausgabe: The Souls of Black Folk, 1903) – Henry Louis Gates jr.: „Das mit Sicherheit bedeutendste Geschenk, das Du Bois der schwarzen Literaturgeschichte machte, ist das Konzept der Dualität des Afro-Amerikaners, die er in den Metaphern des doppelten Bewusstseins und des Schleiers zum Ausdruck bringt.“ (QUELLE: Henry Louis Gates jr., Dunkel, wie durch einen Schleier, Vorwort in: W.E.B. Du Bois, Die Seelen der Schwarzen, 2008/2003, S. 20)

 

 

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