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„Rattige” Blasmusik


Im New Orleans der Zeit zwischen 1900 und 1910 rannte der kreolische Klarinettist L(o)uis Tio beim Herannahen einer Uptown-Band in das nächstbeste Haus und ersuchte im Scherz, sich unter das Bett legen zu dürfen, denn diese „Blödmänner“ aus der Uptown würden die gute Musik versauen.1) Die nach Noten spielenden Kreolen bezeichneten die Musik der ungeschulten Afro-Amerikaner aus der Uptown als „ratty“ (rattenartig), „faking“ (vortäuschend), als Barrelhouse2)-Musik oder ähnlich abfällig.3) Der kreolische Kornettist Isidore Barbarin sagte zum Beispiel über Buddy Bolden, er sei bei den „rattigen Leuten“ berühmt gewesen. Barbarins Enkel Danny Barker stellte hingegen fest, dass rattige Leute, rattige Kneipen und Spelunken für ihn bedeutete: vergnügliche, bodenständige Leute, die überall dabei sind, wo es gute Stimmung gibt. Rattige Musik sei bluesige, volkstümliche Musik, die einen bewegt, beschwingt und zum Tanzen bringt.4)

Von solcher Musik, die in den 1900er und 1910er Jahren für die Entwicklung des Jazz bedeutend war, gibt es keine Aufnahmen. Brassbands im New-Orleans-Stil und andere afro-amerikanische Blasmusikkapellen, die in ihrer Subkultur eigene Spielweisen pflegten, wurden erst ab Mitte der 1940er Jahre aufgenommen.

 

Country-Brassbands

Im Mai 1954 machte der Jazz- und Blues-Forscher Frederic Ramsey jr. im ländlichen Alabama Feldaufnahmen von zwei Brassbands.5) Sie zeigen, wie selbst entwickeltes, an Spirituals orientiertes, von afrikanischen Praktiken beeinflusstes, „singendes“ Spiel auf Blasinstrumenten geklungen haben kann. Doch wirken ihre Spielweisen derart fremdartig und nach westlichen Standards dilettantisch und falsch, dass sie wohl nur in einer abgeschiedenen Gegend auf dem Land bestehen konnten, nicht im urbanen New Orleans.

William J. Schafer: Die von Ramsey aufgenommenen Country-Brassbands seien raue, kleine Ensembles, die nur in ein paar Tonarten spielten. In den isolierten ländlichen Gegenden sei das selbst beigebrachte Improvisieren der einzige Weg gewesen, wie die aus der Sklaverei befreiten Afro-Amerikaner ohne Notenkenntnisse und technische Anleitung spielen konnten. Sie hätten dabei eine durchaus schlüssige musikalische Organisation und ein beträchtliches Repertoire hervorgebracht. Ihre Musik sei eine Adaption der Kirchenlieder und weltlichen Songs, die ihr einziges verfügbares Material bildeten. Sie hätten quasi „singende Hörner“ gespielt. So wie diese rauen Plantagen-Bands mit ihrem Gehör Spirituals und Hymnen aufgriffen, dürften afro-amerikanische Brassbands in New Orleans einfache Melodien bearbeitet haben.6)

Alfons Michael Dauer: Diese Country-Brassbands hätten mit europäischen Instrumenten und einem selbst entwickelten afro-amerikanischen Melodietyp afrikanische Traditionen fortgesetzt. Betrachtet man ihre Spielweise aus dem Blickwinkel der Methoden afrikanischer Blasorchester-Traditionen, so ergeben sie „sehr wohl ein logisches und vollauf zufriedenstellendes Resultat“.7)

Alyn Shipton erwähnte auch andere ländliche Blasmusikkapellen, von denen es allerdings keine Aufnahmen gibt: Nach Aussage des Klarinettisten Joe Darensbourg habe jede Kleinstadt Louisianas ihre eigene Kirchenmusikkapelle gehabt. Diese spielten meistens nicht nur bei kirchlichen Ereignissen und Beerdigungen, sondern zunehmend auch bei sozialen Anlässen. Austin Jr. Sonnier habe solche Bands von Siedlungen im Flachland Louisianas aufgelistet und Musiker dieser Gegend, die vor 1900 geboren wurden, interviewt. Nach deren Aussagen seien in der Musik dieser Bands viele Elemente des Jazz vorhanden gewesen, insbesondere Synkopierung, Swing und melodische Improvisation. Nach Sonniers Forschungsergebnissen hatte diese ländliche Tradition zwar viele Parallelen, aber kaum eine direkte Verbindung zur Musik von New Orleans.8)

 

Bunk‘s Brass Band und Original Zenith Brass Band

Im Zuge der Wiederbelebung des New-Orleans-Jazz Mitte der 1940er Jahre9) nahm der Jazz-Autor Bill Russell 1945 eine Brassband auf, die der New-Orleans-Veteran Bunk Johnson aus seinen alten Kollegen und jüngeren Musikern für diese Aufnahme10) zusammensetze. Im folgenden Jahr machte der Autor Rudi Blesh ebenfalls Aufnahmen mit einer aus Veteranen zusammengestellten Brassband, die Original Zenith Brass Band genannt wurde. Trotz der Bemühungen beider Bands, den Sound früherer Tage zu reproduzieren, blieben ihre Ergebnisse ein Produkt ihrer Zeit. Die alten Musiker wurden in den dazwischen liegenden Jahrzehnten vielfältig beeinflusst, selbst die ehemals strikten Notenleser unter ihnen hatten längst Jazz-Spielweisen übernommen und die Beteiligten richteten sich unwillkürlich auch danach, welche Musik die beiden Autoren bei ihrer romantischen Rückwärtswendung erwarteten. Die in der Zeit der Jazz-Entstehung aktuelle Brassband-Musik zurückzuholen, schien nicht mehr möglich gewesen zu sein, selbst Mitte der 1940er Jahre nicht, als noch viele Musiker lebten, die an ihr ehemals beteiligt waren.11)

William J. Schafer: Der Klarinettist George Lewis, der sowohl in Bunk Johnsons als auch in der Original Zenith Brass Band mitwirkte, habe in den Brassbands anders gespielt als in seiner Jazz-Band. Das zeige sich besonders in den Aufnahmen seines Konzerts Jazz at the Ohio Union im Jahr 1954, bei dem er zunächst im Jazz- und dann im Brassband-Kontext spielte. Die Brassbands hätten mit ihrer Straßen-Spielweise, mit ihren heiseren, schreienden Tönen, dem breiten Vibrato und ihrer Attacke einen eigenen Stil gehabt. Die losen Parts der unterschiedlichen Instrumente seien oft dissonant gegeneinander gekracht und vorübergehend außerhalb der Stimmung und des Rhythmus gewesen. Das habe manchmal als Ungenauigkeit oder Unfähigkeit erscheinen können, sei jedoch nicht einfach schlampiges oder ungeübtes Spielen gewesen, wie manche Kritiker behaupteten.12)

 

Eureka Brass Band

Im Jahr 1951 wurde zum ersten Mal eine nicht eigens zusammengesetzte, sondern seit Langem aktive Brassband aufgenommen13), die Eureka Brass Band, die mit Umbesetzungen seit 1920 bestand. In einer von Frederic Ramsey jr. zwischen 1951 und 1957 gemachten Aufnahme ist sie mit dem Stück Bourbon Street Parade in einer lebhaften Straßenszene zu hören.14) Doch lagen diese Aufnahmen der 1950er Jahre schon weit von der Anfangszeit des Jazz entfernt. Außerdem war die Eureka Brass Band eine angesehene Musikkapelle, die zwar die heißen Spielweisen aus der Uptown integriert hatte, aber mit notierten Arrangements arbeitete und auf jene Professionalität Wert legte, die den kreolischen Musikern seit jeher ein Anliegen war.15) So wie diese Brassband kann eine amateurhafte Kapelle aus der afro-amerikanischen Uptown daher nicht geklungen haben.

 

Uptown-Brassband

Der Jazz- und Blues-Forscher Samuel Charters nahm am späten Nachmittag des Mardi Gras (Faschingsdienstag) des Jahres 1957 auf der Tchoupitoulas Street von New Orleans eine Brassband aus der Uptown auf.16) Zu dieser Tageszeit waren die Paraden bereits vorüber und die Uptown-Klubs tanzten zur rauen Musik ihrer völlig erschöpften Brassbands, die bereits acht Stunden lang von Bar zu Bar marschiert waren. Die aufgenommene Band bestand aus den letzten acht der ursprünglich rund zwanzig Musiker17) ihres Klubs, die am Ende noch in der Lage waren zu spielen.18) Es liegt daher nahe, das extrem schräg intonierte, schleppende Spiel der Band mit Erschöpfung und Alkoholisierung zu erklären. Doch ist am Ende des aufgenommenen Stücks ein ausgesprochen geschliffenes Trompetensolo im Stil Louis Armstrongs zu hören, nachdem die Trompete zuvor wie die anderen Instrumente an der gemeinschaftlichen Produktion der verzogenen Klänge beteiligt war. Auch ist wohl anzunehmen, dass Charters die Musik dieser Band nicht aufgenommen und veröffentlicht hätte, wenn sie den Eindruck einer Gruppe Betrunkener, die nicht mehr ordentlich spielen können, erweckt hätte.

 

E. Gibson Brass Band

William J. Schafer nannte in seinem 1977 erschienenen Buch19) die E. Gibson Brass Band als bestes neueres Beispiel für eine Brassband, deren Mitglieder fast alle nicht der Musikergewerkschaft angehören. Sie seien von über 70 bis zu unter 30 Jahre alt und die Band bestehe seit den 1940er Jahren als eine Neighborhood-Band des Garden Districts von New Orleans.20) In den Jahren 1963 und 1964 entstanden Aufnahmen von ihr21) und in ihnen ist unverkennbar, dass ein Verziehen der Töne und „falsch“ klingendes Zusammenspiel beabsichtigt ist. In Verbindung mit den zuvor genannten Aufnahmen anderer Bands zeigt sich somit eine Blasmusiktradition mit eigener expressiver Ästhetik, die ein wenig vorstellbar macht, warum sich der zu Beginn des Artikels erwähnte Kreole Luis Tio unter dem Bett verstecken wollte. Allerdings liegen zwischen den Aufnahmen der E. Gibson Brass Band und den Jazz-Anfängen rund sechs Jahrzehnte, in denen diese lebendige, am Gemeinschaftsleben ausgerichtete Musiktradition vielfältigen Einflüssen ausgesetzt war. Wie Uptown-Brassbands einst klangen, lässt sich daher wohl nur mehr sehr vage erahnen.

 

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Fußnoten können direkt im Artikel angeklickt werden.

  1. QUELLE: Thomas Brothers, Louis Armstrong‘s New Orleans, 2007/2006, S. 175
  2. Barrelhouses („Fass-Häuser“) waren Kneipen, in denen man mangels Mobiliars auf Alkohol-Fässern saß.
  3. QUELLE: William J. Schafer, Brass Bands and New Orleans Jazz, 1977, S. 9
  4. QUELLE: Thomas Brothers, Louis Armstrong‘s New Orleans, 2007/2006, S. 28
  5. der Laneville-Johnson Union Brass und der Lapsey Band; Album Music From The South, Vol. 1: Country Brass Bands, von Smithsonian Folkways
  6. QUELLE: William J. Schafer, Brass Bands and New Orleans Jazz, 1977, S. 14
  7. QUELLE: Alfons Michael Dauer, Tradition afrikanischer Blasorchester, 1985, S. 157-163
  8. QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 50, Quellenangabe: Austin Jr. Sonnier, Willie Geary "Bunk" Johnson, 1977
  9. Mehr dazu im Artikel Echter Jazz: Link
  10. Album Bunk's Brass Band
  11. QUELLE: William J. Schafer, Brass Bands and New Orleans Jazz, 1977, S. 60 und 64
  12. QUELLE: William J. Schafer, Brass Bands and New Orleans Jazz, 1977, S. 40
  13. Album Eureka Brass Band: New Orleans Funeral & Parade
  14. Album Music from the South, Volume 10, Been Here and Gone von Folkways Records
  15. QUELLE: William J. Schafer, Brass Bands and New Orleans Jazz, 1977, S. 33 und 60
  16. Album Music of New Orleans, Vol. 1: Music of the Streets: Music of Mardi Gras, von Smithsonian Folkways, Stück Bourbon Street Parade
  17. Sie bildeten anfangs zwei Brassbands.
  18. QUELLE: von Samuel Charters verfasster Begleittext des Albums Music of New Orleans, Vol. 1: Music of the Streets: Music of Mardi Gras, von Smithsonian Folkways
  19. Brass Bands and New Orleans Jazz, 1977
  20. QUELLE: William J. Schafer, Brass Bands and New Orleans Jazz, 1977, S. 59
  21. Album The Gibson Brass Band of New Orleans 1963/64

 

 

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