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Joachim-Ernst Berendt ordnete in seinem Jazzbuch die üblichen Jazz-Stil-Kategorien jeweils einem Jahrzehnt zu1) und erklärte: „Das Entscheidende ist nicht, wie lange ein Stil gepflegt wird, sondern wann er entstanden ist und wann er seine größte Vitalität und musikantische Kraft entwickelt hat. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen hat sich tatsächlich alle zehn Jahre – und zwar meist zu Beginn des Jahrzehnts – mit frappierender Regelmäßigkeit ein neuer Stil gebildet.“2) In der letzten, zu seinen Lebzeiten erschienenen Fassung des Jazzbuchs aus dem Jahr 1989 musste er (beziehungsweise sein nunmehriger Mitautor) jedoch auch feststellten, dass mittlerweile „in einem unablässigen Prozess des Vermischens und Vermengens Stilkategorien gesprengt und Stilgrenzen ignoriert“ werden.3) Das Problem, das sich daraus für Berendts Stilschema ergab, wurde mit folgender Behauptung umschifft: „Zum Stil ist geworden, dass nichts mehr Stil ist.“ Das Spielen ohne „festumrissenen“ Stil sei selbst zum Stil geworden und der Jazz damit „postmodern“4). So wurde aus der Stillosigkeit wiederum ein Stil konstruiert. Doch spätestens mit diesem Stil der Stillosigkeit ist das in Jahrzehnten voranspringende Stilschema endgültig an sein Ende geraten. Berendt hatte sich damals bereits vom Jazz ab- und der Esoterik zugewandt5), wo noch mehr Raum für das Konstruieren von Gesetzmäßigkeiten besteht. Sobald man eine genau in Jahrzehnten voranschreitende Stilentwicklung des Jazz wahrnimmt, müsste eigentlich klar sein, dass man auf unrealistische Weise interpretiert. Denn es ist extrem unwahrscheinlich, dass ungeplante, sich allein aus den vielen Bestrebungen von Musikern ergebende Entwicklungen mit einer solchen Regelmäßigkeit vor sich gehen.
Berendt glaubte auch, einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Stilen und ihrer jeweiligen Zeit zu erkennen. Zum Beispiel schrieb er: „Im Bebop ist die unruhige Nervosität der vierziger Jahre eingefangen.“6) Diese Aussage unterstellt, dass die Zeit eine bestimmte Charaktereigenschaft hat, die alle zehn Jahre wechselt. Das ist eine irrationale Vorstellung, wie sie in der Esoterik vorkommt.7) Zwar kann zum Beispiel der Aktienmarkt eine Zeit lang besonders „unruhig“ sein, bestimmte Bereiche der Kunst turbulent oder die wirtschaftliche Lage eines Landes insgesamt instabil. Doch waren die in den USA lebenden Menschen in den 1940er Jahren gewiss nicht generell „nervöser“ als davor und danach. Die Lebensumstände und Gefühlszustände der Bewohner eines Landes sind äußerst vielfältig, erst recht innerhalb einer Zeitspanne von zehn Jahren, sodass jeder Versuch, sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen oder gar auf derart simple Weise zu charakterisieren, völlig unrealistisch ist. Außerdem ist „Nervosität“ keineswegs eine Eigenschaft von „Bebop“, womit die Musik von Charlie Parker, Max Roach, Thelonious Monk, Bud Powell, Dizzy Gillespie, Fats Navarro und so weiter gemeint ist. Bei aller Dynamik und Spannkraft spielten diese Meister bestechend relaxt. Verkrampfung und Nervosität wären schwerwiegende Mängel gewesen. – Für andere Jahrzehnte nahm Berendt ähnliche8), zum Teil kompliziertere, im Wesentlichen jedoch gleichartige und aus denselben Gründen abwegige Charakterisierungen vor.
Seine Neigung zu geistreich anmutenden, rätselhaften Deutungen zeigt sich auch in seiner folgenden Aussage: „Wenn Sie mich fragen, was ich persönlich für das Imposanteste an der Jazzmusik halte, dann würde ich ohne zu zögern antworten: ihre stilistische Entwicklung. Sie ist mit der Folgerichtigkeit und Logik, Zwangsläufigkeit und Geschlossenheit vor sich gegangen, welche die Entwicklung echter Kunst seit je kennzeichnen.“9) Demnach wäre das Beeindruckendste am Jazz für Berendt also nicht die Musik selbst, etwa bestimmte musikalische Qualitäten, gewesen, sondern eine gewisse Eigenschaft des Stile-Systems, das er und andere Jazz-Kritiker entwickelt hatten. Worin diese Eigenschaft (eine „Folgerichtigkeit und Logik, Zwangsläufigkeit und Geschlossenheit“) bestehen soll, legte er nicht dar. Er sah sie offenbar im Zusammenhang mit „echter Kunst“ und der Musikwissenschaftler Ekkehard Jost wies darauf hin, dass die Idee eines „quasi organisch sich fortsetzenden Entwicklungsprozesses“ aus der „Moderne“ der europäischen Kunst und Konzertmusik stammt.10) Berendts Perspektive war von solchen Kunstauffassungen geprägt, wie zum Beispiel seine folgende Aussage zeigt: Der Jazz sei „als geistiges und kulturelles Phänomen innerhalb der anderen geistigen und kulturellen Strömungen dieses Jahrhunderts“ zu sehen und die „Befreiung“ des Free-Jazz-Jazz habe nicht zufällig Parallelen zu „anderen modernen Künsten“, zur modernen Literatur und zur „System-Freiheit modernen Philosophierens“.11) Nur mit einem solchen Verständnis für „moderne Kunst“ lässt es sich erklären, dass Berendt 1971 in seiner TV-Serie „Jazz – gehört und gesehen“12) die europäische Free-Jazz-Band Globe Unity Orchestra mit so genanntem „Kaputt-Spielen“13) präsentierte14): Der Saxofonist Peter Brötzmann erzeugte nichts anderes als quietschende Schreilaute und wackelte dabei stark mit dem Oberkörper. Der Pianist Alexander von Schlippenbach hatte ein Brett über die gesamte Tatstatur gelegt, auf das er wild drückte. Der Schlagzeuger Han Bennink erzeugte mit hektischen Bewegungen chaotische Klänge. Solche mehr Performance-artigen als musikalischen Aufführungen enthalten keine Spur von Jazz-Qualität im Sinn der von Louis Armstrong, Charlie Parker und John Coltrane repräsentierten Musiktradition. Der Gitarrist Attila Zoller sagte über Brötzmanns Musik: „Es ist eine Musik, die dich buchstäblich mit Hass auflädt. Ich kann’s nicht hören, ich möchte alles anstecken oder kurz und klein schlagen, wenn ich eine Weile Brötzmann gehört habe.“15) Ende der 1990er Jahre wurde Berendt bei einem Interview ein Ausschnitt dieser Filmaufnahme vom Globe Unity Orchestra vorgespielt und er sagte dazu: Die damalige Phase, in der „jeder Dreiklang eine Sünde wider den heiligen Geist war“, sei nötig gewesen, um „heute über die ganze Breite zu verfügen“16). In Wahrheit waren diese damaligen Aktionen für nichts, was seither im Jazz Bedeutung erlangte, von Belang, geschweige „nötig“.
Dass solche Befreiungsaktionen für Berendt einen bemerkenswerten Schritt der Jazz-Entwicklung darstellten, scheint aber nicht nur auf sein Kunstverständnis zurückzuführen sein, sondern auch auf seine persönliche Lebensgeschichte, auf die Erfahrungen seiner Generation mit dem totalitären System ihrer Kindheit und Jugend sowie auf die Bedeutung, die der Jazz für sie in diesem Zusammenhang hatte. Als 74-Jähriger versuchte Berendt in einer Art Autobiographie17) unter anderem die Frage zu beantworten, warum er einen großen Teil seines Lebens dem Jazz gewidmet hatte. Er meinte, die Intensität des Jazz habe ihn besonders angesprochen sowie auch, dass der Jazz seit seinen Anfängen „in all seinen Formen, Stilen und Spielweisen“ und dann ganz besonders als Free-Jazz eine Musik sei, die „aufbricht in Neues Land, Musik der Jugend, des Protests, des Widerstandes, der Befreiung, eines ungeheuren musikalischen Atemholens“.18) Diese Wirkung auf den jungen Berendt wird umso verständlicher, wenn man sich seine Kindheit und Jugendzeit vor Augen führt: Sein Vater war eine kalte, erdrückend dominante Figur. Seine Mutter verließ die Familie, als Berendt drei Jahre alt war, was er als die intensivste Erfahrung seines Lebens in Erinnerung behielt und ihn schutzlos dem Regiment seines Vaters aussetzte. Dazu kommen traumatisierende Erfahrungen mit autoritären, gewalttätigen Lehrern19), der Nazi-Diktatur20), im Krieg21) und in der Kriegsgefangenschaft. Berendt schrieb an seine verstorbene Mutter gerichtet: „Am liebsten sangst und spieltest Du Schubert. Seltsam, dass meine Musik der Jazz wurde – bei so viel ‚Klassik‘ im Haus. Protestiere ich damit – gegen Dich? Gegen den Vater? Wollte ich mir all die Erinnerungen – die süßen und dennoch so schmerzlichen – aus der Seele trommeln, durch Saxofone und gestopfte Trompeten aus dem Herzen blasen lassen? Ich schaffte es nicht. Heute ist die klassische Musik wieder so lebendig in meinem Leben, dass ich ein Buch über sie schreiben konnte – schreiben musste –, und ich begreife: Sie war nie fort. Am wenigsten Schubert und Bach. Schubert Deinetwegen, Bach des Vaters wegen ….“22) Als Berendt nach dem Zweiten Weltkrieg als „Radiomann“ begann, spürte er, „wir müssen Jazzmusik senden.23) Aber ich wusste wenig über Jazz – außer, dass er ‚entartet‘, ‚jüdisch‘, ‚verniggert‘, ‚bolschewistisch‘ sei.“24) Und er schrieb auch: „Von Anfang an empfand ich das Politische an meiner Arbeit, so ‚musikalisch‘ sie war.“25)
Die Musik der Meister der Jazz-Tradition war jedoch kaum je politisch. Natürlich enthält sie auch den Ausdruck des Lebens- und Freiheitswillens der unterdrückten afro-amerikanischen Minderheit, doch war sie nie eine Protestmusik. Vielmehr zelebriert sie eine großartige Lebendigkeit, geistige Erhebung und Schönheit.
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