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Prä-Fusion


Jimmy Smith, Wes Montgomery und Eddie Harris, in deren Bands der Schlagzeuger Billy Hart in den 1960er Jahren mitspielte und deren Musik er als „Prä-Fusion“ bezeichnete1), waren ausgezeichnete Musiker, die sich jedoch so weit in einen von kommerziellen Überlegungen dominierten Bereich hinauslehnten, dass sie im Jazz-Kontext an Ansehen verloren. Das Verbinden des Jazz mit den musikalischen Erfahrungen einer jüngeren Generation, die mit einer veränderten Tanz- und Unterhaltungsmusik aufwuchs, blieb letztlich aber ein unausweichliches Thema.

Jimmy Smith nahm in den 1950er Jahren unter anderem noch Stücke aus Charlie Parkers Repertoire auf.2) Er spielte dabei mit rasanten Läufen, doch letztlich war seine Spezialität vor allem effektvolle Sounds, die er auf der Hammond-Orgel entwickelt hatte und die an die heiße Musik der afro-amerikanischen Kirchen erinnerten, wo dieses Instrument häufig eingesetzt wurde. Nachdem er damit beim Publikum ankam, vereinfachte er seine Musik und produzierte mithilfe seiner Sounds sowie starker Blues- und Gospel-Elemente eine Expressivität, bei der sich authentisches Feeling und Show für ein Massenpublikum zu mischen schienen3). Dazu kam in den 1960er Jahren eine Vermarktung durch die Plattenfirma Verve, die sein Spiel mit Bigband-Arrangements und Geigenklängen umgab.4) Smith wurde von der Firma auch dazu gebracht, zum Beispiel den damals aktuellen Rolling-Stone-Hit Satisfaction (1965) aufzunehmen.5) Er spielte ihn auf seine Weise und grenzte sich später mit der Aussage von der Rock-Musik ab, sein Funk sei der originale: „Sachen wie die von Horace Silver, das ist Funk. Das ist es, was wir den alten Oklahoma-Funk nennen.“6)

Der Pianist Horace Silver verwendete bereits im Jahr 1953 den Ausdruck „Funk“ im Titel eines Stückes7) und seine stark an Blues und Gospel orientierte Spiel- und Kompositionsweise war tonangebend für die sich damals entwickelnde Richtung des so genannten Funk-und Soul-Jazz. Silver führte als Richtlinie für seine Kompositionen, von denen etliche zu Jazz-Standards wurden, folgende Qualitäten an: melodische Schönheit, bedeutungsvolle Einfachheit, harmonische Schönheit, Rhythmus, Umfeld-bedingte, ererbte, regionale und geistliche Einflüsse.8) Er liebe sowohl das „down-home, funky Spiel“ als auch die verfeinerte Konzeption des Bebop9) und versuche „Melodien zu schreiben, die ankommen, die einfach zu spielen und einfach zu verstehen sind. Ich versuche, jene Art von Musik zu schreiben, die – wenn ich eine neue Melodie spiele – die Art von Einfachheit und Tiefe hat, dass Leute singend nach Hause gehen und es mit sich nehmen.“10) Silver und der Schlagzeuger Art Blakey mit seiner Band The Jazz Messengers näherten sich älteren Jazz-Stilen sowie Gospel und Blues an und schafften damit den Durchbruch zu einem großen Publikum, insbesondere auch zur afro-amerikanischen Bevölkerung11), die der Bebop-Musikerkreis der 1940er Jahre mit seiner komplexen Musik nur sehr eingeschränkt erreicht hatte. Dizzy Gillespie, der zu diesem Kreis gehörte hatte, sagte später, die als Funk-Jazz bezeichnete Musik „bekräftigte erneut den Vorrang von Rhythmus und Blues in unserer Musik und ließ einen funky [stinkend] vor Schweiß werden, wenn man sie spielte“ und sie habe mit ihren „erdigeren, kirchlicheren Klängen eine Menge neuer schwarzer Fans zu unserer Musik“ gebracht.12) Gillespie hatte selbst Anfang der 1950er Jahre (noch vor Silver und Blakey) eine Musik gespielt, die der mit dem Blues verbundenen Tanz- und Unterhaltungsmusik sehr nahe kam, nachdem er im Jahr 1950 seine Bigband, die ihm sehr am Herzen lag, mangels entsprechendem Publikumserfolgs aus finanziellen Gründen auflösen musste.13) Immer wieder sahen sich Jazzmusiker zu kommerziellen Zugeständnissen gezwungen. Der Trompeter Lee Morgan, der mit seinem Stück The Sidewinder (1963) einen erfolgreichen Hit des so genannten Soul-Jazz oder Hard-Bop hervorbrachte, erzählte zum Beispiel: Er habe all diese „hippe“ Musik gespielt und bei einer Plattenaufnahme sei ein „Scheiß“ dazu gemischt worden, um das Album zu füllen, und ausgerechnet dieser „dumme Scheiß“ (er meinte das Stück The Sidewinder) sei zu seinem großen Hit geworden.14) Dieses gefällige Stück von Morgan mit seinem lateinamerikanisch beeinflussten Rhythmus, den der Schlagzeuger Billy Higgins beitrug, löste eine drängende Nachfrage nach Ähnlichem aus, sodass die Plattenfirma15) auf zahlreichen weiteren Platten Nachahmungen des Stückes herausbrachte.16) Billy Hart sagte in einem vom Pianisten Ethan Iverson geführten Interview, Schlagzeuger wie Higgins seien damals in der Lage gewesen, Hit-Platten zu machen, ohne „komplett das Rock-and-Roll-Rezept zu abonnieren“. Iverson wies darauf hin, dass tatsächlich der Backbeat-Rhythmus des Rock, der in der populären Musik vorherrschend wurde, vor den 1970er Jahren nicht wirklich auf Jazz-Platten auftauchte.17)

Im Jahr 1966 wechselte Billy Hart von Jimmy Smith zum Gitarristen Wes Montgomery, der ursprünglich aus Begeisterung für Charlie Christian mit dem Gitarre-Spielen begann.18) Christian war ein bedeutender Innovator zu Beginn jener Bewegung, die als Bebop bezeichnet wird19), und Montgomery war „der technisch perfekteste Gitarrist seit Charlie Christian“. Er hatte dessen rhythmischen Drive, eine „noch größere stilistische Bandbreite“20) sowie einen souligen, predigenden Ausdruck21). Im Jahr 1963 begann Montgomery dann jedoch, sich von einem Streichorchester begleiten zu lassen22), und ab 1964 – also bereits bevor Billy Hart zu seiner Band stieß – wurde er von derselben Plattenfirma wie Jimmy Smith auf ähnliche Weise vermarktet23).

Nachdem Montgomery im Jahr 1968 vorzeitig starb, schloss sich Hart dem Tenor-Saxofonisten Eddie Harris an, der Anfang der 1960er Jahre durch einen millionenfach verkauften instrumentalen Pop-Hit24) und später durch ebenfalls erfolgreiche Mischungen von Funk-Musik mit Jazz-Elementen25) sowie durch so genannten Soul-Jazz26) bekannt wurde. Harris wurde deshalb in der Jazzpresse nicht ernst genommen, doch sagte Greg Osby: „Man hat ihn nicht gewürdigt als den großen Konzeptionalisten und Individualisten, der er wirklich ist.“27) Eddie Harris experimentierte mit elektronischen Veränderungen des Saxofon-Klangs, womit er (in den Worten von Gene Ammons) „mehr Effekte erreichte als jeder andere, der elektrisch verstärkt“28). Er verwendete ungewöhnliche Kombinationen von Mundstücken und Instrumenten, etwa eine Trompete mit Saxofon-Mundstück oder ein Saxofon mit einem Posaunen-Mundstück. Auch zeigte er große Offenheit für unterschiedliche musikalische Bereiche. Nach der Einschätzung von Ian Carr, der als Buchautor und Pionier des europäischen Jazz-Rocks bekannt wurde, war Harris ein „exzellenter Musiker“, „Meister der Elektronik“ und „produktiver Komponist“.29) Im Vergleich etwa zu den großartigen Improvisationen, komplexen Rhythmen, dem harmonischen Reichtum und der Tiefgründigkeit des John-Coltrane-Quartetts der 1960er Jahre wirken Eddie Harris Klangexperimente und Annäherungen an populäre Musik aber letztlich doch wenig beeindruckend. Harris lehnte eine „Künstlerhaltung“, wie er es nannte, ab30) und verstand sich eher als Geschäftsmann, der Musik mag31). Billy Hart sagte, er sei bei Harris geblieben, bis er „nicht mehr weiter machen wollte“, er sei „dieses Gigs32) müde“ geworden.33)

 

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  1. QUELLE: Ethan Iverson, Interview with Billy Hart, Jänner 2006, Iversons Internetseite Do the Math, Internet-Adresse: http://dothemath.typepad.com/dtm/interview-with-billy-hart.html, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  2. Album House Party (1957/58); einen lebendigen Eindruck von Smiths damaligem Spiel verschafft das Live-Album Groovin' at Small's Paradise (1957)
  3. siehe Dokumentarfilm Smith, James O. – Organist, USA von Klaus Wildenhahn, Deutschland, 1965/66, Internet-Adresse: http://www.youtube.com/watch?v=A9fObWXHTv4
  4. Aus diesem Grund ist Billy Hart auf Smiths Platten nicht zu hören, obwohl er in den Jahren 1964 bis 1966 Mitglied seiner Band war. (QUELLE: Ethan Iverson, Interview with Billy Hart, Jänner 2006, Iversons Internetseite Do the Math, Internet-Adresse: http://dothemath.typepad.com/dtm/interview-with-billy-hart.html, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  5. QUELLE: Dokumentarfilm Smith, James O. – Organist, USA von Klaus Wildenhahn, Deutschland, 1965/66, Internet-Adresse: http://www.youtube.com/watch?v=A9fObWXHTv4 – Smiths Version ist in seinem Album Got My Mojo Workin’ enthalten, dasnoch im selben Jahr, als der Hit erschien, herauskam.
  6. QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 2, S. 1241
  7. Opus de Funk
  8. QUELLEN: Begleittext des Albums Serenade To A Soul Sister (1968), Internet-Adresse: http://jazzsherpa.com/2013/03/03/guidelines-from-a-guru-horace-silvers-notes-on-composition/; Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 487, eigene Übersetzung
  9. QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 2, S. 1222
  10. QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 489, Quellenangabe: Interview des Autors mit Horace Silver, 19. März 2000, eigene Übersetzung
  11. Alyn Shipton: Gerade als Silver und Blakey dafür kritisiert zu werden begannen, dass sie „vereinfachten“ Bebop spielen, hätten sie auch begonnen, zu einem Massen-Publikum durchzubrechen. Ihre Fusion von Bebop der späten 1940er Jahre mit dem Vokabular des frühen „Gutbucket“-Jazz sowie mit Gospel und Rhythm-and-Blues sei in den „schwarzen Neighborhoods“ gut angekommen und zu einer populären Jukebox-Kost geworden. (QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 492)
  12. QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 490, Quellenangabe: Jean-Paul Levet, „Funky“ in: Jean-Paul Levet, talkin' that talk. Le langage du blues et du jazz, 1992, eigene Übersetzung
  13. Alyn Shipton: Dizzy Gillespie habe auf den Niedergang seiner Bigband im Jahr 1950 hinauf eine Art Rhythm-and-Blues-Band formiert und Stücke wie We Love to Boogie, School Days, The Bluest Blues und Oo-shoo-be-doo-be aufgenommen, die zu seinen am wenigsten anspruchsvollen Aufnahmen zählten. (QUELLE: Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 487)
  14. QUELLE: Ethan Iverson, Interview with Billy Hart, Jänner 2006, Iversons Internetseite Do the Math, Internet-Adresse: http://dothemath.typepad.com/dtm/interview-with-billy-hart.html, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  15. Blue Note
  16. QUELLEN: Ethan Iverson, Interview with Billy Hart, Jänner 2006, Iversons Internetseite Do the Math, Internet-Adresse: http://dothemath.typepad.com/dtm/interview-with-billy-hart.html, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link; Alyn Shipton, A New History of Jazz, 2007, S. 501
  17. QUELLE: Ethan Iverson, Interview with Billy Hart, Jänner 2006, Iversons Internetseite Do the Math, Internet-Adresse: http://dothemath.typepad.com/dtm/interview-with-billy-hart.html, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  18. Martin Kunzler: Montgomery habe als 19-Jähriger Aufnahmen von Christian gehört, sich daraufhin eine Gitarre gekauft und begonnen, dessen Soli nachzuspielen. (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 2, S. 881)
  19. siehe Aufnahmen aus dem Jahr 1941 in Minton’s Playhouse und Monroe's Uptown House (zum Beispiel Album After Hours. Charlie Christian-jazz immortal. Dizzy Gillespie-1941; Album The Immortal - Live at Minton's); Christian starb 1942
  20. QUELLE: Brian Priestley in: Ian Carr/Digby Fairweather/Brian Priestley, Rough Guide Jazz, dtsch., 2004, S. 484
  21. Der Gitarrist John Scofield bezeichnete Montgomerys Spielweise als „soulful und gospelbezogen“. Er habe auf der Gitarre „gepredigt.“ (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 2, S. 881)
  22. Album Fusion! Wes Montgomery with Strings
  23. QUELLEN: Ethan Iverson, Interview with Billy Hart, Jänner 2006, Iversons Internetseite Do the Math, Internet-Adresse: http://dothemath.typepad.com/dtm/interview-with-billy-hart.html, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link; Joachim-Ernst Berendt: Wes Montgomery sei ein „Musterbeispiel für den Vermarktungsprozess, dem so viele Jazzmusiker unterworfen sind“. Der Produzent Creed Taylor habe „ihn mit Streichorchestern und kommerziellen Songs allein nach dem Gesichtspunkt der Verkäuflichkeit produziert“ und gegen Ende seines Lebens habe Montgomery gesagt, er sei „immer deprimiert“ über sein Spiel. (QUELLE: Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann, Das Jazzbuch, 1989, S. 397)
  24. seine 1961 aufgenommene Single-Version des Stückes Exodus aus einer (nicht von ihm komponierten) Filmmusik; eine längere Version enthält sein erstes Album Exodus to Jazz (1961)
  25. insbesondere den Hit Listen Here des Albums The Electrifying Eddie Harris (1967)
  26. vor allem das ebenfalls millionenfach verkaufte Live-Album Swiss Movement (1969), das er in Kooperation mit dem Keyboarder Les McCann aufnahm, einem typischen Vertreter der als Soul-Jazz bezeichneten Richtung
  27. QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 1, S. 513
  28. QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 1, S. 209
  29. QUELLE: Ian Carr in: Ian Carr/Digby Fairweather/Brian Priestley, Rough Guide Jazz, dtsch., 2004, S. 291 – Ian Carr schrieb an dieser Stelle auch, dass Harris „Hohn erntete“, weil er „Rock-Rhythmen einsetzte und mit Elektronik experimentierte – ein Unding für die reaktionären Puristen der Jazz-Szene“, und dass er von Kritikern nur Ablehnung zu spüren bekommen habe. Carr dürfte als Jazz-Rock-Musiker wohl selbst von solcher Ablehnung betroffen worden sein. Letztlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass Harris (und andere) bei ihrer Annäherung an Rock- und Pop-Musik eine „künstlerische Verflachung in Kauf genommen“ haben, wie es Martin Kunzler ausdrückte. (QUELLE: Martin Kunzler, Jazz-Lexikon, 2002, Band 1, S. 209)
  30. Steve Coleman sagte, Eddie Harris grinse über seine „Künstler-Haltung, wie er das nennt. Das sei so dumm, dass es noch nicht mal Brot auf den Tisch bringe“. (QUELLE: Christian Broecking, Der Marsalis-Faktor, 1995, S. 125)
  31. Eddie Harris: „Ich bin eher ein Geschäftsmann. Ich mag Musik und habe, wie Sie wissen, in diesem Kontext so viele verschiedene Dinge gemacht.“ (QUELLE: Christian Broecking, Der Marsalis-Faktor, 1995, S. 131)
  32. Engagements (im Sinne von engagiert werden)
  33. QUELLE: Ethan Iverson, Interview with Billy Hart, Jänner 2006, Iversons Internetseite Do the Math, Internet-Adresse: http://dothemath.typepad.com/dtm/interview-with-billy-hart.html, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link

 

 

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