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Kulturelle Unterschiede


Beim Auftritt einer afrikanischen Musikgruppe1) in Wien, die eine Jazz-orientierte Musik mit starken afrikanischen Elementen spielte2), begann ein Teil des Publikums zu tanzen – allerdings mit Bewegungen, die ein anderes rhythmisches Verständnis von der Musik ausdrückten, als sie von den Musikern gedacht war. Das irritierte die Musiker und als das Publikum dann noch in einem aus der Sicht der Musiker verschobenen Puls den Rhythmus mitzuklatschen begann, brachen sie ihr Spiel verwirrt ab.3)

Wie Rhythmen einer fremden Musikkultur zu verstehen sind, ist aber oft nicht nur für Laien, sondern auch für Musiker und Musikwissenschaftler anhand der Musik allein nicht erkennbar. Der Jazz-Pianist Vijay Iyer erzählte, dass er bei einem Aufenthalt in Senegal gemeinsam mit anderen westlichen Musikern zunächst nicht feststellen konnte, wie die Rhythmen einer einheimischen Musikgruppe aufzufassen waren. Sie halfen sich dann damit, dass sie kleine Kinder beobachteten, die zur Musik hüpften und tanzten.4) – Einerseits sind grundlegende Elemente der Rhythmik wie Puls, metrische Gruppierungen, Zweier- und Dreier-Unterteilungen und so weiter in den meisten Musikkulturen zu finden, denn diese Elemente entsprechen der allgemeinmenschlichen Funktionsweise der Rhythmus-Wahrnehmung. Die Strukturen, die mit diesen Grundelementen in der jeweiligen Musikkultur gestaltet werden, sind andererseits aber oft sehr unterschiedlich.

Ähnliches gilt für Töne und Harmonien: Inwieweit das Zusammenklingen von Tönen harmonisch oder dissonant wirkt, ist in Grundzügen durch physikalische Gesetzmäßigkeiten und die neurologische Funktionsweise des Hörsinns bedingt.5) Es kommen deshalb in praktisch allen Musikkulturen die Oktave sowie Tonleitern vor, die sie in mehr oder weniger einfachen mathematischen Verhältnissen unterteilen.6) Die tatsächliche Ausgestaltung der Tonsysteme und die mit ihnen verbundenen Ästhetiken unterscheiden sich zwischen den Musikkulturen jedoch sehr. Zum Beispiel erzählte Steve Coleman von einem Gespräch mit einer indischen Sängerin, die hörte, dass es in seinem Saxofonspiel etwas gab, dem er folgte, und ihn danach fragte: Er habe die Frage nicht auf der Stelle beantworten können, weil zur Erklärung des Konzepts der Akkord-Progressionen schlicht für sie verständliche Begriffe fehlten.7)

Selbst etwas so Grundlegendes wie das Verständnis von Melodie haben nicht alle Musikkulturen gemeinsam.8) Unverständlich für Fremde sind häufig auch die symbolischen und emotionalen Bedeutungen der Töne, Klänge, Laute, Melodien, Harmonien und Rhythmen. Zum Beispiel gelten in manchen Gesellschaften der Sahara- und Sahel-Zone hohe Töne als männlich und tiefe als weiblich.9) In Musikkulturen der Ostsahara ist die Musik prinzipiell einstimmig, nur in einem bestimmten Lied wird Mehrstimmigkeit eingesetzt – zum Ausdruck von Verwirrung!10)

Die häufige Behauptung, Musik sei eine weltweit verständliche „Sprache“, ist somit schlicht falsch.11) Musik ist wie Sprache nur aus dem jeweiligen kulturellen Zusammenhang heraus verständlich. Eine fremde Musikkultur wie die eigene verstehen zu lernen, ist kaum möglich, denn das System einer Musik und ihre emotionalen Bedeutungen werden bereits in jungen Jahren verinnerlicht.12) Wie sehr einem die musikalischen Regeln der Musikkultur, in der man aufgewachsen ist, zur Selbstverständlichkeit geworden sind, zeigt sich zum Beispiel darin, dass Europäer selbst dann, wenn sie sich für unmusikalisch halten, sofort den „Fehler“ (im Sinne der europäischen Regeln) erkennen, wenn ein Lied nicht mit dem Grundton endet.

Da der Jazz im Wesentlichen das europäische Tonsystem verwendet, klingt er für europäische Ohren weitgehend vertraut.13) Das ihm zugrundliegende Musikverständnis enthält jedoch auch Anteile aus „nicht-westlichen“ Kulturen und verlangt daher das Entwickeln eines Gespürs für sein spezielles Wesen – unter anderem für die besondere Bedeutung und den eigenen Charakter seines Grooves.

 

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  1. der Kachamba Brothers Band aus Malawi im Jahre 1972
  2. der Musikstil wurde Kwela genannt
  3. QUELLE: Gerhard Kubik in: Artur Simon (Hrsg.), Musik in Afrika, Berlin 1983, Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde, Neue Folge 40, Abteilung Musikethnologie IV, S. 313-326
  4. QUELLE: Vijay Iyer, Microstructures of Feel, Macrostructures of Sound: Embodied Cognition in West African and African-American Musics, 1998, Dissertation, Internet-Adresse: http://vijay-iyer.com/writings/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link – Iyer war im Jahr 1997 als Mitglied der Band von Steve Coleman dort, der auch einige afro-kubanische Musiker angehörten und die auf dem Saint Louis Jazz Festival auftrat. Sie blieben ungefähr 12 Tage dort und spielten mit einheimischen Musikern. (QUELLEN: Steve Colemans Internetseite M-Base Ways, Community Forum/ Elements of One film/Why Senegal?, Beiträge Nr. 3456 vom 12. Dezember 2014 und Nr. 3467 vom 6. Jänner 2015, Internet-Adresse: http://m-base.net; Robert G. O'Meally/Brent Hayes Edwards/Farah Jasmine Griffin [Hrsg.], Uptown Conversation. The New Jazz Studies, 2004, S. 235) – Die Zusammenarbeit von Colemans Band, insbesondere der kubanischen Bandmitglieder, mit der senegalesischen Gruppe Sing Sing Rhythme (Sing Sing Rhythms) ist im DVD-Film Elements of One (aufgenommen 1996 bis 2002) von Eve-Marie Breglia, CHOD Productions, dokumentiert. Zwei der kubanischen Trommler (Ramon Garcia „Sandy“ Perez und Luis Cancino Morales) gehörten in Kuba der Gruppe Afro Cuba de Matanzas an, die ein großes Spektrum ursprünglich aus Afrika stammender ritueller Musik und der in Kuba entwickelten Rumba-Musik beherrschte. Leiter der senegalesischen Gruppe Sing Sing Rhythme war der Perkussionist und Sänger Mbaye Dièye Faye (auch bekannt als Babacar Faye), der seit Kindheitstagen mit dem international bekannten Sänger Youssou N’Dour eng befreundet war und in dessen Band als Perkussionist spielte. (QUELLE: Patricia Tang, Masters of the Sabar, 2007, S. 61) Im Elements-of-One-Film sagte Faye, er spüre sich manchmal selbst, wenn er den Kubanern zuhört.
  5. QUELLE: Manfred Spitzer, Musik im Kopf, 202, S. 101f
  6. QUELLE: Manfred Spitzer, Musik im Kopf, 202, S. 101, 110, 113
  7. QUELLE: Johannes Völz, Improvisation, Correlation, and Vibration: An Interview with Steve Coleman, Anfang 2003, Internet-Adresse: http://m-base.com/interviews/improvisation-correlation-and-vibration-an-interview-with-steve-coleman/, betreffende Stelle in eigener Übersetzung: Link
  8. Musikwissenschaftler Manfred Bartmann: In einer Diskussion sei es darum gegangen, „ob den Musiken der Welt ähnliche melodische Grundmotive zugrunde liegen, die denen entsprechen, die das Abendland seinen Vorschulkindern zugedacht hat und die vielleicht deshalb so natürlich anmuten. Ein Thema von eminenter pädagogischer Bedeutung, zugegeben, allein: bei diesem Topos handelt es sich um ein ehrwürdiges Stück Wissenschaftsgeschichte. Es dürfte kein Zufall sein, dass dieses vermeintliche Kriterium das Melos betrifft, ein in der abendländischen Musikkultur erstrangiger Parameter, für den die meisten Regeln existieren. Das ist anderswo anders: arabisch-persische Musiktraditionen haben eine kognitive Trennung von Tonfolge und Rhythmus kultiviert, südafrikanische arbeiten mit Klangflächen, das heißt sie trennen nicht zwischen Klangfarbe und Grundton. Brandl fasst zusammen: Tonleitern mit auf- und absteigenden Tonordnungen lassen sich überall nachweisen. Aber nicht in allen Kulturen wird ihnen die gleiche Bedeutung zugemessen. [...] In vielen Kulturen erfolgt die Anordnung auch nicht nach dem Bezugssystem Tonhöhe. In Zentralasien etwa gelten Klangfarben als Ordnungsfaktor. [...] [Die unterschiedlichen Auffassungen von Melodie] haben sich in den einzelnen Kulturen historisch unabhängig voneinander entwickelt. Drei- oder vierstufige Tonleitern sind nur dann archaisch, wenn ein historischer Beleg vorliegt. Häufig stehen in einer Kultur wenigstufige neben komplexeren Leiterformen.” (QUELLE: Manfred Bartmann, Musik ist keine Weltsprache. Interkulturelle Unverträglichkeiten und Missverständnisse als Grenzlinien für kulturelle Synthesen, Vortrag anlässlich der Arbeitstagung der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Wien, 7. bis 11. Oktober 1998, Internet-Adresse: http://www.siegfried.trebuch.com/muwi/muwi/institut/publikationen/bartmann_weltsprache.htm, Quellenangabe: Rudolf M. Brandl/Helmut Rösing, Musikkulturen im Vergleich, in: Herbert Bruhn/Rolf Oerter/Helmut Rösing (Hrsg.), Musikpsychologie. Ein Handbuch, 1993, S. 62; die Ergänzung „Die unterschiedlichen Auffassungen von Melodie“ im Zitat stammt von Bartmann)
  9. weil hohe Töne („männliche”) Spannung ausdrücken, tiefe („weibliche”) Entspanntheit (QUELLE: Monique Brandily, Kora Kosi, 2001, S. 18)
  10. QUELLE: Monique Brandily, Kora Kosi, 2001, S. 21
  11. QUELLE: Manfred Bartmann, Musik ist keine Weltsprache. Interkulturelle Unverträglichkeiten und Missverständnisse als Grenzlinien für kulturelle Synthesen, Vortrag anlässlich der Arbeitstagung der Kommission für Lied-, Musik- und Tanzforschung in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Wien, 7. bis 11. Oktober 1998, Internet-Adresse: http://www.siegfried.trebuch.com/muwi/muwi/institut/publikationen/bartmann_weltsprache.htm
  12. QUELLE: Robert Jourdain, Das wohltemperierte Gehirn, 2001, S. 314. – Das Buch ist zugleich selbst ein Beispiel für die Begrenztheit musikalischen Verständnisses: Jourdain ist offenbar Anhänger der europäischer Konzertmusik und scheint so etwas wie Groove und damit auch die Qualitäten des Jazz nicht recht erfasst zu haben (S. 173 und 197). – Christoph Drösser: Was die Aneignung von Musik fremder Kulturen angeht, sei der Musikwissenschaftler David Huron pessimistisch. Es sei zwar möglich, sich an alle möglichen Musiken dieser Welt zu gewöhnen, aber das sei nicht gleichzusetzen mit Verstehen. Drösser: „Wir haben als Angehörige der westlichen Kultur unsere 12-tönige Skala so weit verinnerlicht, dass wir indische oder arabische Musik, die eine andere Tonleiter verwendet, beim Hören zwangsläufig in diese Skala hineinpressen – wir runden Töne auf oder ab zu denen, die wir erwarten, auch wenn sie dann für unsere Ohren ein bisschen ‚schief‘ klingen.“ (QUELLE: Christoph Drösser, Der Musik-Verführer, 2009, S. 250) – György Ligeti: „[…] ich kann Ihnen dazu eine Anekdote erzählen. Ich habe unlängst, auf Französisch, eine Musikkritik von der Elfenbeinküste gelesen. Das Goethe-Institut hatte ein deutsches Bläserquintett geschickt, und da stand dann: Die deutschen Bläser sind so geschwind, sie haben gut gearbeitet; am Ende waren sie schweißüberströmt. Ich glaube nicht, dass Leute eine Sprache verstehen, die sie zum ersten Mal hören.“ (QUELLE: Interview György Ligeti im Gespräch: Warum sind Sie gegen Weltmusik, Herr Ligeti?, Internetseite der Zeitung Der Tagesspiegel, 5.6.2001, Internet-Adresse: http://www.tagesspiegel.de/kultur/gyoergy-ligeti-im-gespraech-warum-sind-sie-gegen-weltmusik-herr-ligeti/232152.html) – Christoph Drösser: Der Musikforscher Eckart Altenmüller erzählte „die Anekdote vom Besuch des sambesischen Präsidenten in der Berliner Oper. Der berichtete nachher, er habe den Anfang am schönsten gefunden – den Moment, in dem die Orchestermusiker ihre Instrumente stimmten.“ (QUELLE: Christoph Drösser, Der Musik-Verführer, 2009, S. 157)
  13. Eine Abweichung stellen zum Beispiel die Blue Notes dar, die von europäischen Ohren öfters als traurig, klagend wahrgenommen werden, aber nicht generell so zu verstehen sind.

 

 

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